Halbzeit in Cannes
19. Mai 2009Einen klaren Favoriten für die Goldene Palme haben die Kritiker der deutschen Feuilletons noch nicht gefunden. Die meisten Wettbewerbsbeiträge wurden wohlwollend aufgenommen, das Niveau sei in diesem Jahr nicht schlecht, wenn auch nicht überragend, so das Urteil der großen Zeitungen. Aber: es hat einen echten Aufreger gegeben, einen Film, der das Fachpublikum, die Journalisten und Ehrengäste schockiert hat aufgrund seiner drastischen Gewaltdarstellung, der unverhüllt pornografischen Bilder, des geballten Horrors auf der Leinwand. Der Däne Lars von Trier hat es mit seinem neuen Film "Antichrist" geschafft, die Gemüter zu bewegen.
Drastisches Genrekino
Von Trier erzählt die Geschichte eines Paares, dessen Kind ums Leben kommt, während die Eltern sich lieben. Um den Schicksalsschlag zu überwinden ziehen sich die beiden in eine kleine, einsame Hütte in einem deutschen Wald zurück. Der Mann, Psychotherapeut, will dabei seine Frau behandeln. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" kritisierte von Triers drastischen Bilderreigen als "verkünstlerischtes, aufgeblähtes Genrekino" mit "Bildern, zwischen Kalauer und Gruselkitsch." Der Rezensent der "Welt" ist etwas gnädiger, spricht aber auch von "viel halb ausgegorenen Gedanken" beim Dänen. Die "Süddeutsche Zeitung" stellt eher vorsichtig die Frage, ob sich "ein Filmemacher so vollständig seinen Ängsten und Obsessionen hingeben" darf, rät aber von einer vorschnellen Verurteilung des Films im Trubel von Cannes ab.
Sozialkomödie aus England
Aufatmen danach bei Ken Loach. Der Veteran des engagierten sozialkritischen Kinos stellte in Cannes seinen Film "Looking for Eric" vor. Darin geht es um einen am Leben gescheiterten Mann, der nur noch bei seinen Kumpels und beim Fußball Trost findet. Als dann ein realer Fußballstar in sein Leben tritt, oder zumindest in seine Phantasie, schöpft er wieder Hoffnung. Für das zuvor so geschockte Publikum ein - wie die "Süddeutsche Zeitung" schreibt "vollständiger Therapieerfolg, umjubelt vom glücklichen Publikum". Und die "Welt" pflichtet dem bei: "Loachs Humor ist nah am Volk, hart aber herzlich, aber auch unwiderstehlich."
Ein Dichterstar im Kino
Es gab noch weitere große Namen im diesjährigen Wettbewerb von Cannes. Die Neuseeländerin Jane Campion präsentierte ihren Film "Bright Star", der Episoden aus dem Leben des Dichters John Keats aneinanderreiht: "Die Perspektive, aus der Jane Campion die Geschichte erzählt, ist ganz selten - Männer haben tausende von Filmen gemacht, die nur um eine Frau kreisen, der Gegenentwurf aber wirkt immer noch bizarr und reizvoll" - die Rezensentin der "Süddeutschen Zeitung" zeigte sich vor allem von der weiblichen Sicht auf die historische Figur angetan. "Die Welt" dagegen sprach von Zuschauern, die Campions Kostümfilm schlichtweg nur als Kitsch empfanden.
Beifall für Gefängnisfilm
Auf große Zustimmung stieß dagegen der Franzose Jacques Audiard mit seinem Gefängnisfilm "Der Prophet", in der er die Geschichte eines verurteilten Verbrechers nachzeichnet, der sich in der Haft fit macht für ein Leben nach dem Gefängnis. Audiards Ansatz sei es "einen Genrestoff mit einer komplexen, ganz ungewohnten Zentralfigur zu erzählen, sie auf eine Bildungsreise zu schicken und mit Phantasien auszustatten, wie sie das Genre eigentlich nicht vorsieht", schrieb zum Beispiel die FAZ. Auch bei anderen Kritikern kam dieser französische Wettbewerbsbeitrag sehr gut weg.
Kein Palmen-Favorit bei Halbzeit
Ein paar gute Filme, einen heiß diskutierten Schocker, viel Brutalität, sehr viel Genrekino -das ist Cannes 2009 zur Halbzeit. Der eindeutige Favorit auf die Goldene Palme fehlt noch. Aber es kommen ja noch einige Filme prominenter Regisseure wie Pedro Almodovar, Michal Haneke und nicht zuletzt Quentin Tarantino.
Autor: Jochen Kürten
Redaktion: Marlis Schaum