Hans-Ulrich Treichel: "Der Verlorene"
7. Oktober 2018Deutsche Nachkriegsgeschichte, einmal ganz anders in den Blick genommen. Treichel schreibt seinen Debütroman im Jahre 1998, erzählt von Vertreibung und Vergewaltigung, von Verlust und Verdrängung. Wie macht er das? Ganz ernsthaft und auch tiefgründig, mit psychologisch ausgefeilten Figuren, historisch unterfüttert. Doch "Der Verlorene" ist auch ein ungeheuer komischer Roman, ein Buch, bei dessen Lektüre man nicht nur schmunzeln, sondern sogar laut lachen kann. Ein erstaunlicher Kunstgriff bei solch einem Thema!
Die Geschichte einer dezimierten Familie
Der Ich-Erzähler ist jung, ein Heranwachsender, die Handlung ist in den 1950er Jahren angesiedelt, die junge Republik steht noch unter dem Eindruck des verlorenen Krieges. Mittendrin die Familie, Vater, Mutter, Sohn - und eben: Der Verlorene.
Lange ist es ein gut gehütetes Geheimnis geblieben: Der Bruder Arnold sei während des Flüchtlingstrecks aus dem Osten in die neue Heimat Westfalen verhungert, so wird es dem Jüngeren stets vermittelt. Doch irgendwann heißt es plötzlich, die Mutter habe Arnold damals in höchster Not, als die Russen den Treck bedrängten, weggegeben, anderen Deutschen, die vorbeizogen, um noch größeres Unglück zu verhindern. Seitdem ist Arnold verschwunden. Bei den Eltern jedoch steht Arnold immer im Mittelpunkt, nicht der andere Sohn, der doch da ist, der noch lebt.
"Arnold war ganz vorn im Photoalbum, noch vor den Hochzeitsbildern der Eltern und den Porträts der Großeltern, während ich weit hinten im Photoalbum war. Außerdem war Arnold auf einem ziemlich großen Photo abgebildet, während die Photos, auf denen ich abgebildet war, zumeist kleine, wenn nicht winzige Photos waren."
Auf der Suche nach dem verlorenen Sohn
Die Eltern machen sich auf die Suche nach Arnold, stoßen schon bald auf eine heiße Spur, ein "Findelkind 2307" soll der verlorene Arnold sein. Doch ist er es wirklich? Der Leser begegnet diesem Kind ebenso wie die Eltern nie. Auf der Suche nach dem verlorenen Bruder, in Universitäten und bei berühmten Professoren, werden die Maße der Familie genommen, Kopf und Fuß verglichen mit denen des Findelkindes. Einen DNA-Test gab es damals noch nicht.
Wie Treichel das beschreibt, ist komisch und grotesk. Es ist aber auch erschreckend, wie der Professor, Freiherr von Liebstedt, die Körpermaße der Eltern abmisst. Der Freiherr scheint sein Handwerk in Nazi-Deutschland gelernt zu haben - ebenso wie der Leichenwagenfahrer, den die Familie in der Universitäts-Mensa trifft und der von der großartigen Hygiene des neuen Krematoriums der Universität schwärmt.
"Der Verlorene" ist autobiografisch grundiert
Dass Hans-Ulrich Treichels Bruder auch verschwand in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs, dass sich Treichels Eltern auch in Westfalen niederließen, dass "Der Verlorene" also autobiografisch grundiert ist, darf man als interessante Information verbuchen. Aber man muss das nicht wissen. Der kurze Roman "Der Verlorene" ist auch so ein großartiges literarisches Debüt, ein Buch über die junge Bundesrepublik und das frühe Wirtschaftswunderland Deutschland, ein Roman über Vergangenheit und deren sublime Verdrängung. Ein Buch über ein Trauma:
"Ich war nur das, was sie nicht hatte."
Was für ein schrecklicher Satz eines Sohnes über seine Mutter, die nur nach dem verlorenen Bruder Ausschau hält.
Hans-Ulrich Treichel: "Der Verlorene" (1998), Suhrkamp Verlag
Hans-Ulrich Treichel, 1952 im westfälischen Versmold geboren, ist Lyriker, Autor von mehreren Romanen und arbeitete als Lektor und Wissenschaftler an verschiedenen Universitäten. Seit 1995 bis zum Frühjahr 2018 hatte Treichel eine Professur am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig inne. Seine schriftstellerischen Werke wurden u.a. mit dem Hermann-Hesse-Preis und dem Eichendorff-Literaturpreis ausgezeichnet.