Jean Ziegler - Der hoffnungsfrohe Optimist
23. März 2017DW: Herr Ziegler, man kennt Sie als harten Kritiker der Globalisierung und sind auch mit Ihren zum Teil radikalen Büchern weltweit bekannt geworden. In dem aktuellen Dokumentarfilm über Sie, "Jean Ziegler - Der Optimismus des Willens", sagen Sie starke Worte und mutige Sätze über Banken und Großkonzerne, von deren Radikalität man ganz erschrocken ist. Sie sprechen von "organisierter Kriminalität". Sind Sie oft verklagt worden?
Ja, natürlich. Vor allem nach einem Buch, das die Schweizer Banken angeklagt hat, also transparent gemacht hat, wie sie auf dem internationalen Kapital arbeiten. Das Buch hieß "Die Schweiz wäscht weiß". Das war vor 20 Jahren. Damals wurde meine parlamentarische Immunität als Abgeordneter vom Bundesparlament (des Schweizer Nationalrates, Anmerk. d. Red.) aufgehoben. Und dann kam eine Prozesslawine, ausgelöst durch Großbanken, Geschäftsleute, Finanzinstitute usw. Und ich hatte neun Prozesse am Hals, drei auch in Deutschland, und habe alle verloren.
Aber das Buch war ein sehr, sehr großer Verkaufserfolg und hat weltweit sehr genützt bei der Bewusstseinsbildung zu diesen dubiosen Geschäften des Finanzkapitals. Aber es hat mir eben auch Millionenklagen eingebracht. 6,6, Millionen war die Gesamtsumme der Schadensersatzklagen gegen mich. Und meine Konten, auf die das Geld der Verkäufe früherer Bücher fließt, sind immer noch blockiert.
Aber jetzt habe ich, seit ich wieder bei der UNO bin, eine neue Immunität. Und die ist sehr viel stärker als die nationale Immunität des Schweizer Bundesparlaments. Wenn mich Nestlé, Siemens oder irgendein Konzern verklagen will - und das möchten die sicher gern nach meinem neuesten Buch "Der schmale Grat der Hoffnung" und dem Film, dann müssen sie zum Internationalen Gerichtshof in Den Haag gehen und dort die Immunitätsaufhebung verlangen. Und das geht nicht so schnell, das geht Jahre so ein Prozess. Also ich bin jetzt wieder in der Lage, Bücher zu schreiben, die offen reden können.
DW: Sie haben Ihr Buch "Der schmale Grat der Hoffnung", das gerade auf den Markt kommt, soeben erwähnt. Der Titel klingt so, als hätten Sie in der Vergangenheit doch manchmal geschwankt, gezweifelt. Warum sollte gerade jetzt Grund zur Hoffnung sein?
Wir leben unter einer Weltdiktatur des globalisierten Finanzkapitals, des weltweit organisierten Finanzkapitals. Die 500 größten Konzerne der Welt - alle Sparten zusammengenommen - haben letztes Jahr 52,8 % des Welt-Bruttosozialproduktes kontrolliert. Das sind alle in der Welt produzierten Reichtümer zusammen. Und diese Konzerne haben eine politische, ideologische und finanzielle Macht, wie sie nie ein Kaiser, ein König oder ein Papst gehabt hat auf diesem Planeten.
Sie entziehen sich jeglicher staatlicher Kontrolle, überhaupt jeder Kontrolle - gewerkschaftlicher, politischer, staatlicher. Sie leisten sehr viel im wissenschaftlichen, technologischen Bereich, machen immer wieder neue Entdeckungen. Das ist positiv, aber in der Welt des Finanzkapitals funktioniert alles nach einem einzigen Prinzip: der Profitmaximalisierung in möglichst kurzer Zeit.
Und damit haben wir eine Weltdiktatur des Kapitals erreicht, die eine kannibalische Weltordnung produziert hat. Es gibt unglaubliche Reichtümer auf der einen Seite: Die 85 reichsten Milliardäre der Welt, nach Weltbankstatistik, haben gleich viel Vermögenswerte, wie die 3,5 Milliarden der ärmsten Menschen, die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung mit ihren 7,3 Milliarden auf der Welt.
Auf der anderen Seite verhungert alle 5 Sekunden ein Kind irgendwo auf der Welt oder stirbt an den Folgen der Hungerkrankheiten. Ein Kind unter 10 Jahren, alle 5 Sekunden. Das muss man sich mal vorstellen! Und derselbe Welthungerbericht, dessen Zahlen unbestritten sind, sagt, dass die Weltlandwirtschaft 12 Milliarden Menschen, also das doppelte der ärmsten Hälfte der Bevölkerung, normal ernähren könnte.
Der Hunger ist also menschengemacht und kann deshalb vom Menschen morgen früh aus der Welt geschafft werden. Che Guevara hat gesagt: "Die stärksten Mauern fallen durch Risse." Und Risse gibt es überall, auch in den Mauern der politischen Unterdrückung.
Was kann man tun? Was können wir alle, als Bürger der Zivilgesellschaft, tun?
Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Und Deutschland ist weiß Gott, ich habe es oft gesagt, die lebendigste Demokratie dieses Kontinents. Und die Waffen und Druckmittel der Demokratie sind sehr vielfältig. Sie alle können morgen früh ihren Finanzminister Herrn Schäuble zwingen - Herr Schäuble ist ja nicht vom Himmel gefallen, sondern dort, wo er ist, durch Delegation des Volkes gewählt - im Sinne des souveränen Volkes zu handeln.
Wenn Herr Schäuble im Juni 2017 zur Versammlung des Weltwährungs-Fonds nach Washington fährt, dann können wir ihn zwingen, wir die freien Bürger, dass er einmal nicht für die Gläubigerbanken in Frankfurt, London oder New York stimmt, sondern für die Total-Entschuldung der 15 ärmsten Länder der Welt. Damit die endlich etwas Geld haben, um in ihre Sozialstrukturen, ihre Landwirtschaft zu investieren. Das können wir.
Und wir können morgen vom Deutschen Bundestag verlangen, dass er die Börsenspekulationen auf Grundnahrungsmittel, die heute noch total real sind, aufhebt und verbietet. Dann fallen die Weltbankpreise und in den ärmsten Ländern können die Mütter wieder Nahrungsmittel für ihre Kinder kaufen.
Wie stark ist Ihre Hoffnung auf die jüngeren Generationen, die wieder anfangen auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren - gegen TTIP und CETA, gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit?
Es ist eine ganz mysteriöse Sache. Also wenn ich in Köln auf der lit.Cologne oder im Literaturhaus von Frankfurt eine Lesung habe oder der Film gezeigt wird, da sind sehr, sehr viele junge Menschen. Ich bin immer erstaunt, und ein wenig irritiert, von der generationsübergreifenden Mobilisation. Das ist etwas ganz Merkwürdiges. Ich sehe es bei meinem Sohn, ich sehe das bei meinen Enkelkindern, ich sehe das bei meinen ehemaligen Studenten. Da ist eine Mobilisierung im Gange, eine Bewusstseinswerdung, jenseits der politischen Parteien, der Parteiprogramme und der festgefahrenen Lager in der politischen Landschaft.
Die Zivilgesellschaft hat nur einen Motor, das ist der kategorische Imperativ: Keine Parteilinie, kein Zentralkomitee, nur den "Optimismus des Willens" (Filmtitel des aktuellen Dokumentarfilms über Jean Ziegler, Anmerk. d. Red.) Das ist, wenn man das so sagen will, der berühmte "Kategorische Imperativ". Der Philosoph Immanuel Kant hat gesagt, die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in uns. Das heißt doch nichts anderes als: Ich bin der Andere, der Andere ist Ich.
Und Solidarität, Empathie, Komplementarität zwischen den Menschen sind die einzigen annehmbaren und wirklich funktionierenden Beziehungen - jenseits des Konkurrenzkampfes des raubtier-kapitalistischen Dschungels. Und von Generation zu Generation steigt diese Bruderschaft, steigt die Schlagkraft der Zivilgesellschaft, durch die jungen Leute, die sich da engagieren. Und eines Tages wird sie gewinnen!