Hongkonger auf Distanz zu Peking
8. Juni 2015Wie jedes Jahr am 4. Juni wird in Peking auch in diesem Jahr nichts an das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens erinnern. Damals vor 26 Jahren beendete das Militär die Demokratiebewegung mit einem Blutbad. Hunderte Menschen, möglicherweise mehrere tausend, starben bei der Niederschlagung. Bis heute unterdrückt die Regierung jede Form von Gedenken. Anders in Hongkong: In der südchinesischen Sonderverwaltungszone gilt die Demonstrationsfreiheit. Hier erinnern an jedem Jahrestag Zehntausende an das Massaker.
Doch nach den erfolglosen Demokratieprotesten in Hongkong im Herbst vergangenen Jahres werden Stimmen lauter, die das Gedenken kritisieren. Die "Hong Kong Federation of Students" (HKFS), eine der führenden Gruppen während der Proteste, wird in diesem Jahr zum ersten Mal nicht an der Gedenkveranstaltung teilnehmen. Die Studentenvereinigung der Universität Hongkong (HKUSU) will eine eigene Veranstaltung am 4. Juni organisieren. "Wir glauben, dass nur Hongkonger selber für die Demokratie in Hongkong kämpfen können und sollen", sagt Feng Jingsi von der HKUSU. "Wir können nicht für Demokratie in Festlandchina kämpfen und dabei unsere eigenen Interessen vernachlässigen. Die letzten Demokratieproteste haben das Hongkonger Identitätsbewusstsein gestärkt."
Nur ein Drittel fühlt sich als Chinese
Vor nunmehr 18 Jahren gab Großbritannien seine damalige Kronkolonie an die Volksrepublik China zurück. Nach dem Grundsatz "Ein Land, zwei Systeme" wird Hongkong seitdem als eigenes Territorium regiert und genießt zahlreiche Sonderrechte. Im Gegensatz zur Volksrepublik ist die Presse relativ frei, die Bürger genießen Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
Nach der Rückkehr zur Volksrepublik stieg die Zahl der Besucher vom Festland stetig an. 2014 strömten 47 Millionen Touristen von dort in die Sieben-Millionen-Metropole. Knapp 9000 Studenten vom Festland studieren an Universitäten der ehemaligen Kronkolonie. Politiker beider Seiten hofften, dass sich die Hongkonger an das Festland annähern, doch offenbar ist das Gegenteil der Fall. Laut einer Umfrage der Universität Hongkong fühlen sich 67 Prozent in erster Linie als Hongkonger und nur 33 Prozent als Chinesen oder Chinesen in Hongkong. Seit 2008 war die Identifikation mit China nicht mehr so schwach ausgeprägt. "Ob das ein langfristiger Trend ist, lässt sich momentan nur schwer sagen", sagt Joseph Cheng, Politologe von der Städtischen Universität Hongkong. "Aber das Vertrauen der Hongkonger in Pekings Regierung hat in den letzten Jahren tatsächlich stetig abgenommen." Viele Menschen hätten das Gefühl, nur Großkonzerne würden von der Verflechtung mit der Volksrepublik profitieren. "Viele Hongkonger glauben, dass sich ihr Lebensstandard nach 1997 nicht verbessert hat. Der Einkommenszuwachs konnte nicht mit der Inflation Schritt halten. Das gilt besonders für das Einstiegsgehalt der jungen Uni-Absolventen." So sieht Cheng die Entfremdung in erster Linie bei der jungen Generation. "Aber es ist längst noch nicht Mainstream."
Spannungen zwischen Hongkong und dem Festland
Angesichts der zahlreichen Besucher aus der Volksrepublik bleiben Spannungen zwischen Hongkongern und Festlandchinesen nicht aus. Häufig geht es dabei um Vorwürfe, die Nachbarn aus der Volksrepublik belasteten das Gesundheits- und Bildungssystem oder trieben die Immobilienpreise nach oben. Besonders der Parallelhandel sorgte für Unmut. Viele Produkte aus Hongkong sind auf dem Festland sehr beliebt und wegen niedriger Steuern auch preisgünstiger. Deshalb kaufen zahlreiche Händler in erster Linie Haushaltsgüter in Hongkong ein, bringen sie über die Grenze und verkaufen sie dort. Mit Visa, die die unbegrenzte Einreise ermöglichten, war dies bislang kein Problem. Die Folge: In Hongkong stiegen die Preise. Nach einem Skandal um verseuchtes Milchpulver für Säuglinge in der Volksrepublik kauften die Händler in Hongkong die Regale leer. Wochenlang gab es kein Milchpulver in der Stadt. Erst vor wenigen Wochen reagierte die Führung in Peking nach heftigen Protesten. Seitdem dürfen Einwohner der Nachbarstadt Shenzhen nur ein Mal pro Woche in die Stadt einreisen.
Trotz allem sind Forderungen nach einer Unabhängigkeit von der Volksrepublik äußerst selten und werden von der großen Mehrheit der Bürger abgelehnt. Jedoch wächst die Zahl der Anhänger von Menschen wie Chin Wan-kan. Chin ist Professor an der Lingnan Universität. Er veröffentlichte 2011 sein vieldiskutiertes Buch "Über den Stadtstaat Hongkong". Darin spricht er sich für eine "Chinesische Konföderation" aus, in der die Volksrepublik, Hongkong, Macau und Taiwan voneinander getrennt sind. Ein Anhänger von Chin gründete 2014 in London die "Hong Kong Independence Party", die seit Februar dieses Jahres in Großbritannien registriert ist. Als Logo nutzt die Partei die ehemalige Kolonialflagge Hongkongs. Joseph Cheng hält solche Unabhängigkeitsbewegungen für unrealistisch. "Die Hongkonger Wirtschaft ist immer abhängiger von der chinesischen Wirtschaft geworden. Wir haben weder Möglichkiet, noch die Fähigkeit dazu, uns vom Festland zu trennen."
Sorge vor Reaktion Pekings
2003 wollte die Stadtregierung einen Anti-Abspaltungsparagraphen in das Basic Law, dem Grundgesetz der Metropole, aufnehmen. Nach Massenprotesten musste die Regierung das Gesetz fallen lassen. Viele Demokratieaktivisten befürchten, dass die Führung in Peking die Forderung einer winzigen Minderheit nach Separation zum Anlass nimmt, den Druck auf die Stadtregierung zu erhöhen, damit diese das Anti-Abspaltungsgesetz wiederbelebt. Dann, so die Befürchtung, könnten die gesamte Demokratiebewegung als Separatistenbewegung gebrandmarkt und moderate Kräfte als radikal diskreditiert werden.
Unter Mitarbeit von Jun Yan.