Hongkongs Protestbewegung in der Klemme
7. September 2020Die pro-demokratischen Aktivisten in Hongkong haben die um eine Jahr verschobenen Parlamentswahlen, die am Sonntag hätten stattfinden sollen, zum Anlass für Straßenproteste genutzt. Ihnen standen Tausende Bereitschaftspolizisten gegenüber, die knapp 300 Demonstranten festnahmen, fast alle unter dem Vorwurf der illegalen Versammlung.
Eine Frau wurde wegen des Singens eines neuerdings verbotenen Liedes mit dem Titel "Freiheit für Hongkong, Revolution unserer Zeit" verhaftet. Das Niederringen einer Zwölfjährigen durch mehrere Polizisten wurde per Video dokumentiert und unter anderem von dem Aktivisten Joshua Wong verbreitet. Er schrieb dazu: "In einem Polizeistaat unter dem nationalen Sicherheitsgesetz muss man mit Polizeibrutalität rechnen, auch wenn man nur einkaufen geht." "Minderjährige sollten sich von verbotenen Versammlungen fernhalten", kommentierte ihrerseits die Polizei.
Neue Lage für Protest in Hongkong
Die Lage in Hongkong habe sich im Vergleich zum letzten Jahr und früheren Protesten signifikant verändert, sagt Historiker Jeff Wasserstrom von der University of California, Irvine, gegenüber der DW. "Im vergangenen Jahr wurden noch einige Protestveranstaltungen genehmigt, in jüngster Zeit aber überhaupt keine mehr. Als Begründung wurde die Pandemie genannt, aber derzeit gibt es keine dramatische Zunahme an Infektionen in Hongkong. Bei anderen Versammlungen schaut die Polizei weg. Gespräche darüber, wie Aktionen mit Sicherheitsabstand organisiert werden könnten, finden nicht statt."
Wasserstrom geht davon aus, dass, selbst wenn einige Demonstrationen in der Zukunft erlaubt werden könnten, die Zahl von legalen wie illegalen Protestveranstaltungen stark abnehmen wird. Er verweist auch auf die Zahl der Festnahmen am Sonntag: Diese sei größer gewesen als bei den Demonstrationen der Vergangenheit, obwohl dort viel mehr Teilnehmer waren als am Sonntag.
Nach Meinung von Galileo Cheng, Leiter der Arbeitnehmervertretung katholischer Einrichtungen in Hongkong, sind diejenigen, die sich trotz des Versammlungsverbots und des Sicherheitsgesetzes zu solchen Protesten einfinden, gut vorbereitet und aggressiver als normale Demonstranten. Viele friedliche Gegner der Pekinger Politik hätten sich durch die Pandemie und die Weigerung der Behörden, Demonstrationen zu erlauben, abschrecken lassen.
Freibrief für die Polizei
Laut dem Hongkong-Experten Wasserstrom gibt das neue Sicherheitsgesetz den Behörden mehr Spielraum bei der Begründung von Festnahmen und Verhaftungen. "Bereits im vergangenen Jahr hatte man den Eindruck, dass die Polizei sich bei ihrem Vorgehen wenig eingeschränkt fühlte, da Regierungschefin Carrie Lam sich weigerte, irgendwelche Kritik an der Polizei zu üben oder eine unabhängige Untersuchung des Polizeiverhaltens einzuleiten." Dieser Eindruck eines Freibriefs für die Polizei habe sich in Hongkong jetzt noch verstärkt. "Jetzt wird es darauf ankommen, wie lange die Unabhängigkeit der Justiz und die Möglichkeiten der Presse bestehen bleiben, objektiv über die Proteste und die Gegenmaßnahmen zu berichten." Auf diesen Gebieten habe bislang ein großer Graben zwischen Hongkong und den Städten des Festlands bestanden, aber dieser Graben werde schmaler.
Wie weit reicht "kreativer Widerstand"?
Galileo Cheng zufolge hat sich das neue Sicherheitsgesetz zwar negativ auf die Bereitschaft der Leute ausgewirkt, sich zur Demokratiebewegung zu bekennen. So liege in Geschäften, deren Inhaber mit der Bewegung sympathisieren, jetzt weniger Protestmaterial als früher aus. Er beobachtet auch Selbstzensur in den sozialen Medien.
Allerdings seien alle die politischen Losungen und Zeichen, die unter dem Sicherheitsgesetz eigentlich verboten sind, bei den Protesten am Sonntag aufgetaucht. "Die Teilnehmer haben offenbar abgeschätzt, in welcher Art und Weise die Sicherheitsbehörden das Sicherheitsgesetz anwenden würden und sind das Risiko eingegangen." Cheng glaubt, dass nach dem Ende des mit der Pandemie begründeten Versammlungsverbots die Proteste wieder zunehmen könnten.
Auch Wasserstrom sieht "kreativen Widerstand" der Hongkonger Bevölkerung am Werk, wenn es darum geht, sich gegen den Versuch Pekings zu stemmen, aus Hongkong eine Stadt wie eine andere chinesische Metropole zu machen. Es sei unter den neuen Bedingungen zwar schwieriger geworden, selbst kleine Siege zu erringen. "Aber für immer mehr Hongkonger könnten unauffällige Formen des Widerstands alltäglich werden, indem sie mit kleinen Aktionen darauf hinweisen, dass sie mit dem Verlust der Dinge, die Hongkong einzigartig machen, nicht einverstanden sind."
Jedoch werde es ein schwerer Kampf angesichts der Entschlossenheit Pekings, sein Programm für die Zukunft Hongkongs durchzuziehen. "In gewisser Weise schwebt Peking Macao als Modell für Hongkong vor. Dort gilt ebenfalls offiziell das Prinzip 'Ein Land, zwei Systeme', allerdings bezieht sich 'zwei Systeme' dort vor allem auf die Wirtschaftstätigkeit."