Pekings ungeschickter Umgang mit Hongkong
5. August 2020Was gerade in Hongkong passiert, droht fast ein wenig unterzugehen angesichts des Streits um TikTok, den Donald Trump zwischen China und den USA vom Zaun gebrochen hat. Doch das darf nicht passieren.
Denn die Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam hat die für September angesetzten Hongkonger Wahlen geradezu handstreichartig um ein Jahr verschoben. Dies sei die "schwierigste Entscheidung der vergangenen sieben Monate" gewesen, sagte sie, nachdem sie die Absage mit einem 100 Jahre alten Notstandsrecht aus der britischen Kolonialzeit legitimiert hatte. "Politische Erwägungen" hätten dabei keine Rolle gespielt. Lams Begründung: die dritte Corona-Welle.
Von Notstand kann kaum die Rede sein
Allerdings reden wir bei dieser Welle von einem Ausmaß von derzeit rund 80 neuen Fällen täglich, bei einer Gesamtbevölkerung von 7,5 Millionen Menschen. Zum Vergleich: Deutschland hat aktuell rund 800 neue Fälle jeden Tag bei einer Bevölkerung von 83 Millionen Menschen. In Hongkong ist die Lage im Verhältnis zur Bevölkerungszahl also in etwa gleich wie in Deutschland.
Die Sterberaten sprechen eine noch deutlichere Sprache. Hongkong hat bisher insgesamt 38 Todesfälle. Berlin mit vier Millionen weniger Einwohnern schon mehr als 220. Und New York zählt über 23.000 Tote, mit nur rund einer Million mehr Einwohner als Hongkong. Von einem Notstand kann also kaum die Rede sein, selbst wenn man einräumt, dass Hongkong eine der dichtbesiedelsten Städte der Welt ist. Dass hinter Lams Entscheidung kein politisches Kalkül steht, nimmt ihr in Hongkong kaum jemand ab. Die Pro-Beijing-Gruppen ebenso wenig wie die pro-demokratischen Kräfte, die nach dem Erdrutschsieg bei den Bezirkswahlen im vergangenen November nun erstmals eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus hätten erlangen können.
Laut Gesetz hätte die Wahl bei Bedenken hinsichtlich der öffentlichen Gesundheit zunächst nur um zwei Wochen verschoben werden dürfen. Man habe eine potenzielle Erkrankungswelle im Winter mit eingeplant, erklärte ein Sprecher der Lokalregierung dazu. Alternativen wie Briefwahl wurden dagegen so gut wie nicht diskutiert. Das System dafür könne nicht von heute auf morgen umgesetzt werden. Stattdessen schlug Lam vor, nächstes Jahr Wahlkabinen auf dem Festland einzurichten, für Hongkonger, die in der sogenannten Greater Bay Area in der Provinz Guangdong wohnen. Das öffne mangels transparenter Kontrolle Tür und Tor für Wahlmanipulation, sagen Hongkonger Kritiker.
Der "größte Wahlbetrug in der Geschichte Hongkongs"
In dieses politische Klima passt, dass vergangene Woche zwölf aussichtsreiche Kandidaten des pro-demokratischen Lagers von der Wahl ausgeschlossen wurden, darunter prominente Gesichter wie der Aktivist Joshua Wong, der nun vom "größten Wahlbetrug in der Geschichte Hongkongs" spricht. Carrie Lams Regierung argumentiert, dass niemand Abgeordneter werden könne, der für die Selbstbestimmung oder Unabhängigkeit Hongkongs eintrete und nicht hinter dem neuen sogenannten "Sicherheitsgesetz" stehe. Doch schon im Oktober vergangenen Jahres hat Wong klar und deutlich gesagt, dass seine Partei Demosisto und er sich nicht mehr für eine Unabhängigkeit Hongkongs einsetzen. Dass er Bedenken gegen das "Sicherheitsgesetz" hat, versteht sich von selbst. Und das muss durch die Meinungsfreiheit gedeckt sein.
Die Regierung wiederum betont, dass das Gesetz die Meinungsfreiheit nicht beeinträchtigen werde, die Polizei hat jedoch bereits Menschen verhaftet, weil sie Slogans wie "Befreit Hongkong, Revolution unserer Zeit" riefen.
Hier zeigt sich der fragwürdige Ermessensspielraum: Sicher befürwortet nicht jeder, der den omnipräsenten Spruch in den vergangenen Monaten verwendete, eine Abspaltung von China. Doch wo Selbstbestimmung in Sezession übergeht, wird nun mit Hilfe von Peking definiert und nicht nur auf Basis des Basic Law. Erste Razzien im Rahmen des "Sicherheitsgesetzes" haben ebenfalls stattgefunden. Vier Aktivistinnen und Aktivisten, offenbar allesamt Schüler und Studierende zwischen 16 und 21 Jahren, wurden festgenommen, darunter der frühere Studentenführer Tony Chung.
Skepsis gegenüber den Virus-Experten vom Festland
Die Frage ist jetzt: Was wird ihnen im Detail vorgeworfen, wie werden die Gerichtsverfahren aussehen und wie drakonisch werden die Strafen ausfallen? Theoretisch können nach dem Gesetz "subversive", "sezessionistische" und "terroristische" Aktivitäten mit lebenslanger Haft geahndet werden. Auch eine "Verschwörung mit ausländischen Kräften" steht unter schwerer Strafe - allerdings nur, wenn man das Basic Law aushebelt. Mehrere Länder wie Großbritannien, Frankreich, die USA, Kanada, Deutschland und Neuseeland haben deshalb ihre Auslieferungsabkommen mit Hongkong bereits ausgesetzt, um im Exil lebende Dissidenten wie Ray Wong oder Nathan Law zu schützen. Auch Visa sowie Stipendien für Wissenschaftler oder Studenten aus Hongkong sollen nun leichter erteilt werden.
Für zusätzliches Misstrauen sorgt, dass nun ein 60-köpfiges Expertenteam nach Hongkong geschickt werden soll, um die Testkapazitäten für COVID-19 von derzeit 10.000 auf 200.000 Menschen täglich zu steigern. Die Festland-Chinesen haben ohne Frage viel Erfahrung in der Eindämmung des Virus. Viele Hongkonger fürchten jedoch, dass ihre DNA-Proben nun zusammen mit Fotos und Fingerabdrücken in Archiven des neu eingerichteten "Sicherheitsbüros" landen. Doch selbst wenn das nicht passiert, spielen die Hilfsmaßnahmen Pekings Interessen in die Hände: Denn wenn, wie im chinesischen Staatsfernsehen angekündigt, die gesamte Stadtbevölkerung getestet werden soll, werden natürlich auch mehr Infizierte registriert werden, was wiederum einen weiteren Lockdown und damit die Wahlverschiebung rechtfertigt.
Wunsch nach Mitsprache - trotz Existenzängsten
Berichten zufolge will das medizinische Expertenteam mindestens sechs Monate in Hongkong bleiben. Die Strategie dahinter: Ein längerer Lockdown wird dazu beitragen, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung noch mehr nach Stabilität und finanzieller Sicherheit sehnt und die Unterstützung für Proteste und ähnliches in der Bevölkerung schwindet. Viele Bürger der chinesischen Sonderverwaltungszone haben in den vergangenen Monaten ihren Job verloren oder Lohnkürzungen hinnehmen müssen. Mit 6,2 Prozent erreichte die Arbeitslosenquote zwischen April und Juni ihren höchsten Stand seit 15 Jahren, höher noch als nach der Finanzkrise. Alle Branchen sind betroffen - am härtesten der Gastronomiesektor mit 14,7 Prozent, gefolgt vom Bausektor mit 11,2 Prozent. Auch die Menschen, die in Hotels, Kinos, Museen und im Einzelhandel arbeiten, haben Existenzängste.
Dennoch: Sie werden Lam die Wahlverschiebung nicht vergessen. Sie wollen zwar keine gewalttätigen Demonstrationen oder gar eine Abspaltung von China, was einem wirtschaftlichen Selbstmord gleichkäme. Aber natürlich wollen sie über die Zukunft ihrer Stadt mitbestimmen. In diesen Krisenzeiten mehr denn je.
Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über 20 Jahren in Peking.