Houngbo: "Mindestlöhne sind der richtige Weg"
7. Oktober 2013Deutsche Welle: Zwei von drei afrikanischen Staaten haben einen gesetzlichen Mindestlohn. In der Praxis umgehen ihn aber viele Arbeitgeber - und gehen straffrei aus. Woran liegt das?
Gilbert Houngbo: Wie so oft ist auch hier das Hauptproblem die mangelnde Fähigkeit afrikanischer Staaten, bestehende Gesetze umzusetzen. So gibt es zu wenig Arbeitsinspektoren und sie können kaum kontrollieren, ob die Arbeitgeber den Mindestlohn auch wirklich zahlen. Und wenn doch, dann stellt sich gleich das zweite Problem: Ist man solchen Verstößen auf die Spur gekommen, fehlt der rechtliche Rahmen, um solche Unternehmer auch zu bestrafen.
Liegt es am mangelnden politischen Willen mancher afrikanischer Regierungen?
Auf keinen Fall. Die meisten Regierungen sind sogar sehr frustriert darüber, dass sie den gesetzlichen Mindestlohn nicht hundertprozentig durchsetzen können. Das kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung versichern. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn Arbeitsinspekteure mit dem eigenen Auto oder Motorrad zur Arbeitskontrolle fahren müssen, dann ist es schwierig, eine besondere Effizienz von ihnen zu erwarten. Es ist kein mangelnder politischer Wille, sondern ein Problem, dass die institutionellen und personellen Kapazitäten fehlen.
Was bringt denn ein Mindestlohn, wenn er nicht eingehalten wird?
Ich glaube, so dürfen wir uns dem Problem nicht nähern. Vielmehr ist die Frage: Welche Schritte müssen wir bei der Umsetzung in Angriff nehmen, damit das Gesetz eingehalten wird? Das Problem gilt ja auch für andere Bereiche, etwa für die Sicherheit am Arbeitsplatz. Man kann nicht sagen: Weil wir nicht genügend Kontrollmöglichkeiten haben, darf man so ein Gesetz nicht erlassen. Sondern umgekehrt: Wir müssen so ein Gesetz haben und dann dafür sorgen, dass es auch eingehalten wird. Es ist ja nicht so, dass die gesetzlichen Mindestlöhne generell unterlaufen werden. Es sind Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Was das Problem in Afrika wie auch in Lateinamerika oder Asien noch verschärft, ist der informelle Sektor: In manchen Fällen macht er mehr als drei Viertel der gesamten Wirtschaft aus. Und dort ist es noch schwerer, die Einhaltung des Mindestlohns zu sichern. Ein anderes Problem sind die fehlenden Daten: Wenn man nicht weiß, wer wo als Hausangestellte arbeitet, kann man auch nicht überprüfen, ob diesen Frauen und Männern der Mindestlohn gezahlt wird.
Dann ist der gesetzliche Mindestlohn in afrikanischen Ländern eher als Ausdruck des guten Willens der Regierungen zu werten?
Nein. In Togo zum Beispiel haben wir den Mindestlohn innerhalb von fünf Jahren mehr als verdoppelt, und wir haben auch mit den Sozialpartnern dafür gesorgt, dass er eingehalten wird. Aber es gibt trotzdem immer Arbeitgeber, die ihn irgendwie umgehen. Und die haben wir auch bestraft. Noch mal ganz deutlich: Der Verstoß gegen den Mindestlohn ist nicht die Regel.
Ist für die Einhaltung der Mindestlöhne in afrikanischen Staaten die Stärkung der Gewerkschaften notwendig?
So allgemein lässt sich das nicht sagen. In manchen Ländern sind die Gewerkschaften gut organisiert, und in manchen muss ganz einfach das staatliche System gestärkt werden, um den Mindestlohn durchzusetzen.
Lässt sich denn sagen, dass in Ländern, in denen die Gewerkschaften gut organisiert sind, auch der Mindestlohn am ehesten eingehalten wird?
Es ist schwierig, das eine eindeutig auf das andere zurückzuführen. Was sicher ist: Je stärker die Gewerkschaften organisiert sind, desto besser funktioniert der soziale Dialog und desto wahrscheinlicher ist die Einhaltung des Mindestlohns. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass ein Land, in dem sich die Arbeitnehmer nicht über Gewerkschaften organisieren, es nicht schafft, einen für sie zufriedenstellenden Lohn auszuhandeln. Trotzdem bleibt die Gewerkschaftsfreiheit für mich ein unantastbares Prinzip.
Gibt es afrikanische Länder, die den Mindestlohn besonders erfolgreich umsetzen?
Es gibt mehrere Länder, die sehr interessante Systeme eingeführt haben - Südafrika etwa macht enorme Fortschritte. Aber auch andere weniger entwickelte Länder sind in letzter Zeit gut vorangekommen. Man darf den Mindestlohn aber nicht isoliert betrachten, sondern muss ihn im nationalen Kontext sehen: Wie sind die Lebensbedingungen, die Lebenshaltungskosten, der Sozial- und Gesundheitsschutz von Arbeitern. Jedes Land hat da seine ganz eigenen Probleme. Das gilt übrigens auch für Europa: Viele sehen in Deutschland ein Modell, und das ist es auch. In Deutschland selbst aber diskutiert die Gesellschaft, ob das Land den richtigen Weg geht. Daher hüte ich mich davor, einen Modellstaat auszurufen, dem nun alle nacheifern sollen.
Der 52jährige Togoer Gilbert Houngbo ist Vize-Präsident der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf. Von 2008 bis 2012 war er Ministerpräsident in seinem westafrikanischen Heimatland. Während seiner Regierungszeit führte der autokratisch regierte Staat einen gesetzlich festgelegten monatlichen Mindestlohn von umgerechnet rund 53 Euro bei einer Wochenarbeitszeit von 40 Stunden ein.
Das Interview führte Katrin Matthaei.