Syrien-Hilfe: Auch das Regime profitiert
14. Juli 2021Der türkisch-syrische Grenzübergang Bab al-Hawa bleibt für weitere zwölf Monate offen. Darauf haben sich die Mitgliedstaaten im Weltsicherheitsrat in der vergangenen Woche geeinigt. Die Sorge, Russland könnte seine Drohung wahr machen und durch sein Veto auch den letzten noch offenen Grenzübergang für Hilfslieferungen in die verbliebenen, nicht vom Regime kontrollierten Gebiete schließen, ist damit zunächst vom Tisch. Rund drei Millionen Menschen in der weitgehend von islamistischen Milizen beherrschten Region Idlib können weiterhin mit dem Nötigsten versorgt werden.
Gelöst sind die Probleme humanitärer Hilfslieferungen nach Syrien allerdings nicht - insbesondere nicht die in den von Baschar al-Assads Regime kontrollierten Gebieten, in denen die Vereinten Nationen und kooperierende Hilfsorganisationen ebenfalls Unterstützung leisten. Auch dort sind Millionen Syrer auf humanitäre Hilfe angewiesen. Doch gerade dort sehen sich die UN massiven Problemen gegenüber - und zwar nicht nur solchen logistischer, sondern auch politisch-ethischer Natur.
Assads Zugriff auf Hilfsgelder
Das Regime habe eine komplexe Struktur, sagt Syrien-Experte Carsten Wieland, bis 2019 Berater der UN-Sondergesandten für Syrien, Lakhdar Brahimi, Staffan De Mistura und Geir O. Peddersen. Im DW-Interview weist der deutsche Politikberater und Journalist auf Regime-nahe syrische Geschäftsleute hin, die sich bereits während des Krieges bereichert hätten - und die Hilfslieferungen weiterhin dazu missbräuchten, ihre eigenen Taschen zu füllen. "Zu den Bedingungen des Regimes an humanitäre Organisationen, in Syrien arbeiten zu dürfen, gehört nämlich, dass ein großer Teil der Hilfslieferungen von Händlern aus Syrien selbst stammen muss. Diese Geschäftsleute teilen ihre Gewinne mit dem Regime", berichtet Wieland. Das führe dazu, dass humanitäre Hilfe in den vergangenen Kriegsjahren indirekt auch die Regierung in Damaskus entlastet und gestärkt hat, "eben jenes Regime, das für den allergrößten Teil der Zerstörungen und humanitären Krise verantwortlich ist".
Offensichtlich ist, dass das Regime Hilfslieferungen grundsätzlich als eine Art Kriegswaffe betrachtet und missbraucht. So bevorzugte es bei der Belieferung stets die dem Regime gegenüber loyalen Bevölkerungsgruppen und behinderte die Versorgung über Frontlinien hinweg. Würde, wie von Moskau bis kurz vor der nun erzielten Einigung gefordert, die Verteilung von UN-Hilfen sogar ausschließlich über Damaskus laufen, wäre angesichts der bisherigen Erfahrungen davon auszugehen, dass das Regime seine Monopolstellung weiterhin gegen denjenigen Teil der Bevölkerung einsetzen würde, der in den Rebellengebieten lebt. Dies könnte eine neue Fluchtwelle in Richtung Türkei auslösen.
Ansteigende Not
Bereits jetzt weitet sich die Krise in Syrien weiter aus. Einer Mitteilung des Welternährungsprogramms (WFP) zufolge haben 12,4 Millionen Menschen Probleme, sich zu ernähren - 4,5 Millionen mehr als vor einem Jahr. In Folge einer monatelangen Dürre droht sich die Nahrungsmittelknappheit noch weiter auszudehnen. Hilfsorganisationen warnen: In Syrien könnte es absehbar zu einer noch größeren humanitären Katastrophe kommen.
Hinzu kommt, dass sich immer weniger syrische Helfer aus dem medizinischen Bereich noch vor Ort befinden. Infolge der Gewalt und anhaltenden Angriffe auch auf Gesundheitseinrichtungen hätten mehr als 70 Prozent des medizinischen Personals das Land verlassen, so eine Studie des Washingtoner Think Tanks "Center for Strategic and International Studies" (CSIS). Der Mangel an Personal und die begrenzte Fähigkeit, neue Ärzte, Krankenschwestern, Hebammen und andere medizinische Fachkräfte auszubilden und zu zertifizieren, stelle ein wachsendes Problem für die humanitäre Versorgung dar, so der Befund.
Zudem wurden der Studie zufolge allein 2018 in Syrien in einem einzigen Jahr mehr Mitarbeiter von Hilfsorganisationen getötet als in jedem anderen Konflikt der vorangegangenen 20 Jahre. Demnach wäre Syrien das Land, in dem weltweit die meisten humanitären Helfer ums Leben gekommen sind.
Versuchte Legitimation
Die Entwicklung zeige vor allem eines, sagt Carsten Wieland, der gerade ein Buch über das Dilemma humanitärer Hilfe in Syrien veröffentlicht hat ("Syria and the Neutrality Trap: The Dilemmas of Delivering Humanitarian Aid through Violent Regimes", Verlag I.B. Tauris): Das Regime verbinde mit den Hilfslieferungen keinerlei humanitäres Interesse - ihm gehe es um etwas anderes: Assads Regime wolle sich durch die Präsenz von UN-Organisationen auf seinem Gebiet weiterhin als salonfähiger Teil der Weltgemeinschaft inszenieren. "Indem sie die UN im Lande hält und mit ihnen über humanitären Zugang verhandelt, zieht die Regierung in Damaskus daraus internationale Legitimität, während große Teile der eigenen Bevölkerung ihr die Legitimität nach innen längst entzogen haben."
Hilfe als "Geschäftsmodell"
Dem Regime ist bewusst, dass es zu diesem Zweck zumindest den Anschein humanitären Engagements wahren muss. Darum hat es 2007 - also noch vor dem Krieg - eine Institution, die "Higher Commission for Relief", geschaffen, die Lizenzen an nationale Hilfsorganisationen vergibt, die aus seiner Sicht dazu geeignet sind. Für wie wichtig das Regime diese Kommission hält, zeigt bereits die Personalauswahl: Vorsitzende ist Asma al-Assad, die Ehefrau des Präsidenten.
Das Regime kontrolliert humanitäre NGOs auf nationaler Ebene. "Insbesondere Helfer syrischer Nationalität sind natürlich verwundbar", so Wieland: "Mindestens ein Fall wurde bekannt, wo sogar ein hochrangiger Mitarbeiter des Roten Halbmonds gefoltert wurde - von weniger bekannten Mitarbeitern vor Ort ganz zu schweigen." Wenn es um die eigenen Interessen gehe, behandele das Regime im Zweifel auch humanitäre Helfer im eigenen Land "wie Terroristen", so Wieland.
Doch die Überwachung der Organisationen erfolgt nicht nur aus politischen Gründen. Es geht auch um handfeste finanzielle Interessen: Die Hilfsorganisationen müssten für ihre Tätigkeit eine Gebühr an das Regime entrichten. So werde humanitäre Hilfe für das Regime zu einem regelrechten "Geschäftsmodell ", schreibt Wieland in seinem Buch.
Anpassung des Völkerrechts?
Die in Syrien auftretenden Probleme, sagt Wieland, verwiesen auf eine grundlegende Frage, nämlich die nach der künftigen Ausrichtung des Völkerrechts. Muss in einem schwerwiegenden Fall wie Syrien überhaupt die Zustimmung des betreffenden Landes für humanitäre grenzüberschreitende Einsätze eingeholt werden? Und: "Besteht die unbedingte Souveränität einer Regierung auch dann, wenn diese für großes humanitäres Leid der eigenen Bevölkerung verantwortlich ist?" Es gebe eine Reihe von Völkerrechtlern, so Wieland, die der Auffassung seien, dass eine Regierung "bei solch massiven Menschenrechtsverletzungen und humanitärem Leid ihre unantastbare Souveränität verspielt" habe.