Idlib: Zivilisten zwischen den Fronten
17. Juni 2019Idlib ist bisher der letzte Zufluchtsort für viele Syrer im eigenen Land gewesen. Rund drei Millionen Menschen leben hier. Weitere hunderttausende Syrer sitzen an der syrisch-türkischen Grenze im nahe gelegenen Atmeh fest. Seit Ende April führt das syrische Militär eine Offensive zur Vertreibung der Rebellen in Idlib. Russland hatte als enger Verbündeter der syrischen Regierung in der vergangenen Woche eine neue Waffenruhe für die Region verkündet. Die Angriffe russischer Flugzeuge und syrischer Regierungsanhänger gingen danach jedoch weiter. Nach Informationen der "Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte" mit Sitz in Großbritannien flogen syrische Kampfflugzeuge in der von Rebellen kontrollierten Enklave insgesamt rund 42 Angriffe. Einer davon habe einen Beobachtungsposten der türkischen Armee getroffen.
Stimme hörbar machen
Sophie Bischoff von der Initiative "Adopt a Revolution" befürchtet eine Eskalation der Situation in der Provinz: "Auch wenn die Entwicklungen vor Ort uns in Europa unmittelbar betreffen, herrscht die Wahrnehmung, in Syrien sei alles wieder normal. Der Konflikt interessiert niemanden so richtig." Dass der Krieg in Syrien langsam in Vergessenheit geraten ist, habe etwas mit der Dynamik des Krieges zu tun, der schon acht Jahre andauert.
"Adopt a Revolution" wurde 2011 gegründet, um die Stimmen der syrischen Aktivisten in der Welt hörbar zu machen und Zivilisten vor Ort zu unterstützen. Derzeit arbeitet der Organisation mit rund zwanzig Initiativen in Syrien, die meisten davon befinden sich in Idlib. Viele der zivilgesellschaftlichen Partner mussten bereits vor den Luftangriffen in Idlib fliehen.
Die Ansicht vom vergessenen Krieg teilen auch die zwei großen Hilfswerke Deutschlands, die Diakonie und die Caritas, die auf die Situation in Syrien aufmerksam machen wollen. Die humanitäre Lage sei weiter verheerend, halten die Verbände in einer gemeinsamen Erklärung fest. Wieder einmal werde der Krieg auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen, kritisieren sie. Caritas-Präsident Peter Neher betonte, auch wenn der Blick vieler Menschen sich bereits wieder anderen Weltregionen zuwende, dürfe das Leid von Syrern nicht vergessen werden. Die Menschen haben schwierigen oder gar keinen Zugang zu Versorgung mit dem Nötigsten oder seien zur Flucht gezwungen, wie im Kampf um die Provinz Idlib.
Allein im Mai haben laut UNHCR mehr als 270.000 Menschen vor den Kampfhandlungen in Idlib fliehen müssen. Sechs Millionen Menschen leben demnach weiterhin als Vertriebene im eigenen Land. Insgesamt benötigen laut UN noch immer fast 12 Millionen Menschen in Syrien humanitäre Hilfe.
Das Scheitern der entmilitarisierten Pufferzone
In dem Machtkampf um Idlib befinden sich die Zivilisten schutzlos zwischen den Fronten. Auf der einen Seite wollen die syrischen Regierungstruppen Idlib um jeden Preis zurückerobern. Auf der anderen Seite haben die Dschihadisten von Haiat Tahrir al-Scham (HTS) die vorhandene Machtlücke bereits gefüllt. Die HTS ist eine Gruppe von Extremisten, die aus der Al-Nusra-Front hervorgegangen ist und die dominante Kraft in Idlib ist.
"Nachdem sich Russland und die Türkei auf eine kampffreie Zone in Idlib einigten, war die Türkei dafür zuständig, Idlib von der HTS zu befreien. Das ist nicht passiert und wird jetzt als Argument genutzt, um die Offensive auf Idlib zu rechtfertigen“, so Bischoff. Russland und das Regime griffen aber hauptsächlich zivile Einrichtungen an, wie Krankenhäuser und Schulen. Das seien keine Zufallstreffer, sondern gezielte Angriffe auf zivile Strukturen, meint Sophie Bischoff.
Fällt Idlib an das syrische Regime würden die Menschen gezwungen sein, Idlib zu verlassen. "An der türkischen Grenze befinden sich bereits Tausende Vertriebene. Was wenn diese Zahl weiter steigt? Irgendwann wird kein Platz mehr sein“, meint Bischoff. Die Menschen in Idlib wären nicht sicher, sollte das Regime die Provinz wieder unter Kontrolle haben. Die meisten würden politisch verfolgt werden und deshalb versuchen in die Türkei zu gelangen, um von dort woanders hinzugehen. In anderen Gebieten, in denen das Regime die Macht an sich reißen konnte, habe es eine steigende Anzahl von willkürlichen Verhaftungen gegeben.
Außerdem gebe es kaum Strukturen für Zivilisten wie Luftschutzkeller, um sich vor Bombardierungen in Idlib zu schützen, so Bischoff weiter. "Viele fliehen auf die Felder und versuchen unter den Bäumen Zuflucht zu suchen. Wenn die Lage weiter eskaliert, bedeutet das eine humanitäre Katastrophe, die viele das Leben kosten wird“, warnt Bischoff von "Adopt a revolution".
"Irgendwer muss etwas tun"
Die internationalen Bemühungen zur Friedenssicherung in Syrien sind bisher gescheitert. "Irgendwer muss etwas tun. Es muss mehr Druck ausgeübt werden. Vor allem auf Russland, damit es sich nicht weiter beteiligt. Es müsste im Interesse aller Nationen sein, diese letzte Oppositionsenklave zu erhalten, weil die Menschen dort nicht unter diesem Regime leben können", sagt Bischoff.
Ende Mai fand die letzte Sitzung zum Thema Syrien im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen statt. Die stellvertretende UN-Nothilfekoordinatorin Ursula Müller forderte, Zivilisten in der Region zu schützen. Allein im Mai gab es 160 tote Zivilisten und 25 Angriffe auf Krankenhäuser.
"Sie wissen, dass die Hälfte der syrischen Bevölkerung aus dem Land geflohen ist? Sie wissen, dass hundertausende Syrer getötet wurden, Millionen verletzt? Und sie wissen auch, dass derzeit drei Millionen Syrier in Idlib ins Kreuzfeuer geraten sind?", fragt Müller im Sicherheitsrat. Sie möchte sich vergewissern, dass diese Fakten tatsächlich bekannt sind.
Die Nothilfekoordinatorin hat viele Fragen. Aber anscheinend hat keiner der 15 UN-Botschafterinnen und Botschafter, die am halbrunden Tisch sitzen und ihr zuhören, eine Antwort, die zu einer Lösung führen kann. Russland sprach vom Kampf gegen Terroristen in Idlib, Deutschland vom Respekt vor internationalem Recht. Damit war die fünfte Sitzung des UN-Sicherheitsrates zum Thema Syrien innerhalb eines Monats beendet - ohne dass man dem Ende des Krieges in Syrien ein Schritt näher gekommen wäre.