Im Nachtzug durch Russland
12. Juli 2018Draußen rauschen Nadelwälder vorbei, immer wieder Müll- und Schrottberge, verlassene Bahnhöfe im Nirgendwo. Die Nase an die Fensterscheibe gepresst, beobachte ich Handwerker, wie sie an alten Ladas herumwerkeln. Es sind kleine Einblicke in den russischen Alltag abseits der herausgeputzten WM-Spielorte und der Metropolen-Blase Moskau.
Ist das jetzt das echte Russland? Ich weiß es nicht. Aber eines steht für mich fest: So lässt es sich reisen. Ich sitze im "Grand Express” von Moskau nach Sankt Petersburg, wo das erste WM-Halbfinale zwischen Frankreich und Belgien stattfindet. Mein Kollege hat für uns ein Zweier-Abteil gebucht. Waggon 9, Abteil 17/18. Erste Klasse, eine großartige Idee. Schaffner Roman, knallblaue Uniform, roter Schlips und Mütze, nimmt gerade unsere Frühstücks-Bestellung entgegen. Sorgfältig schreibt er sie in seinen Notiz-Block. Roman spricht gutes Englisch, aber kein Wort zu viel. Freundlich, aber zurückhaltend, so geht perfekter Service. Roman ist der heimliche Star unserer Reise. Ich wünschte, alle Zugbegleiter der Deutschen Bahn könnten bei Roman ein Praktikum machen.
Hotel auf Schienen
Was ich mich auch frage: Was Roman wohl schon alles gesehen haben muss, wenn Reisende die Tür zum Abteil aufschieben und sich Abgründe menschlicher Privatsphäre auftun. Bei uns bekommt er nicht viel geboten. Wir sind zu sehr damit beschäftigt, all die kleinen Details zu entdecken. In der Ablage über dem Bett zum Beispiel liegt ein rotes Täschchen mit Reißverschluss. Es enthält ein Pflegeset: Kamm, Zahnbürste, Frischetücher und einen Schuhanzieher sowie Schuhcreme. Und auch weiße Hausschuh-Schlappen gibt es, mit einem Smiley bedruckt. Der "Grand Express” vermarktet sich selbst als Hotel auf Schienen - und er wird seinem Ruf gerecht. Sogar einen Fernseher hat jedes Abteil und während der Weltmeisterschaft können Reisende sich jedes einzelne Spiel nochmal anschauen. Fußball-Herz, was willst du mehr?!
Nur die echten Fußball-Fans suchen wir vergeblich. Einmal, mitten in der Nacht auf dem Weg zum Bordrestaurant, treffen wir einen vermeintlichen Belgier im Gang, aber er entpuppt sich als Russe, schon etwas angeschwipst. Sein gebrochenes Englisch und der russische Akzent verraten ihn. Noch bevor wir richtig ins Gespräch kommen, wird er schroff zurechtgewiesen von einer Zugbegleiterin, er solle sich in sein Abteil zurückziehen. Nicht jeder Waggon hat einen Roman.
Pritschen wie im Schullandheim
Aber beim Bahnfahren in Russland hat alles seine beste Ordnung, dieser Eindruck verfestigt sich. Tickets und Pass werden bereits vor dem Einsteigen vom Schaffner überprüft. Und Bahnfahren ist ziemlich populär. Auch bei vielen Fans hat sich das herumgesprochen. Hotels und Flüge sind zur WM teuer, da ist Bahnfahren eine willkommene erschwinglichere Alternative. Man muss nur etwas Zeit mitbringen, für die 700 Kilometer zwischen Moskau und Sankt Petersburg sind es in der Regel neun Stunden. Genug Zeit, um zu schlafen - oder auch nicht.
Das müssen wir auf unserer zweiten Reise feststellen, der Rückfahrt von Sankt Petersburg. Ein Kontrastprogramm. Diesmal reisen wir in einem wesentlich älteren Zugmodell. Der Kollege hat dritte Klasse gebucht, und ich frage mich, ob das auch so eine großartige Idee war. 50 Menschen in einem Großraumabteil voller Pritschen, jeweils oben und unten belegt. Ein bisschen wie im Schullandheim. Nur enger und beklemmender. Es ist heiß und stickig in dem schummrigen Waggon. Es riecht nach altem Sofa und verdorbener Salami-Wurst. In einer Plastikfolie liegt auf jeder Pritsche Bettwäsche bereit und wir beziehen unsere Betten.
Eine Zugfahrt verbindet
Russische Sprachfetzen und Baby-Geschrei vermischen sich mit dem Zugrauschen. Ein Elternpaar direkt nebenan reist mit dem wenige Wochen alten Säugling. An Schlaf ist nicht zu denken. Es ist kurz nach zwei Uhr nachts und langsam wird es schon wieder hell, irgendwo zwischen Sankt Petersburg und Moskau. Wir setzen uns zu einer russischen Familie und Mexikaner Juan mit seinem Sombrero. Juan erzählt uns, dass er Bahn fährt, um die Russen ein bisschen besser kennenzulernen. "So kann ich viel mehr über sie erfahren”, sagt er. Die Kommunikation mit dem Teenager der Familie gestaltet sich etwas schwierig, aber die Google-Translate-App hilft. Englisch zu Russisch, Russisch zu Englisch und wieder aufs Neue.
20 Minuten später zieht sich die Konversation bereits über mehrere Betten. Es wird über die besten russischen Wodka- und Biersorten philosophiert. Hierzu hat jeder eine Meinung. Im Waggon nebenan sitzen die Engländer Paul und Craig, die nach Moskau zum Spiel ihrer "Three Lions" gegen Kroatien fahren, das zweite WM-Halbfinale. "Das konnten wir uns nicht entgehen lassen", sagen sie. Tickets haben sie noch nicht, aber dafür die perfekte Verbindung mit dem Zug von Sankt Petersburg, wo sie mit dem Flugzeug gelandet sind. "So sparen wir sogar noch etwas Geld fürs Hotel."
Für Abenteurer Carlos aus Ecuador ist es bereits dritte WM, er hat schon mehrere Zugfahrten hinter sich. "Es ist schon sehr eng hier, aber es ist eine tolle Erfahrung", sagt er. Er habe bis jetzt immer gut geschlafen. Das will auch ich nochmal versuchen, gegen vier Uhr nachts klettere ich auf mein Hochbett. Der Säugling hat das Schreien eingestellt, dafür schnarcht jetzt der Vater. Ich träume von Roman, der mir Frühstück an meine Pritsche bringt. Er wird nicht kommen. Aber es hat Spaß gemacht. Vielleicht sogar mehr als im "Grand Express".