Im Schatten der Lawine
31. März 2015"Ich denke, es wird wieder auf die gleiche Weise ablaufen wie in den Jahren zuvor", sagt Jamling Tenzing Norgay, der Sohn des wohl berühmtesten Sherpas aller Zeiten, der DW. Sein Vater, Tenzing Norgay, hatte 1953 mit dem Neuseeländer Edmund Hillary erstmals den Mount Everest bestiegen. "Ich fürchte, dass in diesem Frühjahr sogar mehr Leute dort sein werden, weil zu den Neulingen auch noch die Bergsteiger hinzukommen, die im vergangenen Jahr nicht zum Zuge kamen."
Lawine mit Folgen
Es ist das Jahr eins nach dem Schwarzen Freitag am Mount Everest. Am 18. April 2014 löste sich im Eisbruch oberhalb des Basislagers eine Eislawine und tötete 16 nepalesische Bergsteiger. Es war das schwerste Lawinenunglück in der fast 100-jährigen Geschichte der Expeditionen am höchsten Berg der Erde. Die Sherpas begehrten auf und forderten Konsequenzen aus dem Unglück, unter anderem höhere Versicherungszahlungen im Todesfall. Eine kleine gewaltbereite Gruppe bedrohte einheimische und ausländische Bergsteiger, die am Berg bleiben wollten. Anderthalb Wochen nach der Lawine war das Basislager leer, die Saison de facto beendet, bevor sie richtig begonnen hatte.
Kaum Abwanderung
Wer erwartet hatte, dass nun viele der kommerziellen Expeditionsveranstalter 2015 auf die tibetische Nordseite ausweichen würden, sah sich getäuscht. Ein einziges Unternehmen aus den USA wechselte nach China, zwei andere westliche Anbieter strichen mit Verweis auf die unklare Lage in Nepal den Everest für 2015 aus ihrem Programm. Das Gros der Veranstalter schlägt jedoch auch in diesem Jahr auf der Südseite die Zelte auf. Mehr als 300 ausländische Bergsteiger dürften dort wieder zusammenkommen. Kurz vor Beginn der Saison beschloss die Regierung nach langem Zögern, dass die 2014 nicht in Anspruch genommenen so genannten "Permits", die Besteigungsgenehmigungen für den Everest, bis 2019 gültig bleiben. Allerdings kosten die Permits jetzt einheitlich 11.000 US-Dollar pro Person, egal ob die Bergsteiger allein oder in einer Gruppe unterwegs sind. Früher lag der Preis für Gruppen ab sieben Teilnehmern - der Regelfall am Everest - bei 10.000 Dollar pro Bergsteiger. Auch die nach dem Unglück von 2014 beschlossenen höheren Versicherungen für die Sherpas machen das Abenteuer Everest teurer als bisher.
Route leicht verlegt
Die Route oberhalb des Basislagers wurde in diesem Frühjahr mehr Richtung Mitte des Eisbruchs verlegt, um die Lawinengefahr zu senken. Dafür werden die Bergsteiger länger in dem Eislabyrinth unterwegs sein. Im Notfall sollen Verletzte innerhalb von anderthalb Stunden mit Hubschaubern ausgeflogen werden können. Regierungsvertreter sollen zudem im Basislager auf 5300 Metern für Ordnung sorgen und mögliche Streitereien schlichten. 2014 hatte das alles andere als gut funktioniert.
Kein großer Rummel auf der Nordseite
Im Basislager auf der tibetischen Seite des Mount Everest dürfte es etwas beschaulicher zugehen als auf der nepalesischen Seite, auch wenn die Zahl der Bergsteiger höher liegen dürfte als in den Vorjahren. "Aber es wird sicher nicht den großen Rummel geben, wie er früher schon einmal auf der Nordseite herrschte", sagt Ralf Dujmovits, der einzige Deutsche, der bisher alle 14 Achttausender bestieg, der DW. "Ganz einfach deshalb, weil es vor allem für die Amerikaner immer noch ungewiss bleibt, ob sie überhaupt nach China hereingelassen zu werden." Dujmovits will im Team mit der Kanadierin Nancy Hansen von Norden aus den Gipfel ohne Flaschen-Sauerstoff erreichen. Bei seinem Erfolg 1992 hatte er zur Atemmaske gegriffen, alle anderen Achttausender hatte er ohne Flaschen-Sauerstoff bestiegen.
Unsicherheit bleibt
Wie der 53-Jährige wollen auch andere deutsche Profibergsteiger von Tibet aus ohne Atemmaske aufsteigen: Thomas Lämmle alleine, das Ehepaar Alix von Melle und Luis Stitzinger als Zweierteam sowie David Göttler mit seinem Münchner Freund Daniel Bartsch und dem Kanadier Raphael Slawinski. Das Trio hat sich zudem eine neue Routenvariante ausgedacht. Im vergangenen Jahr hatte Göttler den Everest von Süden aus besteigen wollen, wegen der Ereignisse nach der Lawine jedoch unverrichteter Dinge abreisen müssen. "Ich war sehr enttäuscht von der letzten Saison und all den Dingen, die in Nepal passiert sind", sagt der 36-Jährige der DW. "Die Unsicherheit, was dort in diesem Jahr geschieht, wollte ich mir ersparen. Ich denke, da lässt man lieber ein bis zwei Saisons durchgehen und wartet ab, bis sich die Lage normalisiert."
Für Jamling Tenzing Norgay, den Sohn des 1986 verstorbenen Erstbesteigers, hat das "normale" Geschehen am Everest nicht mehr viel mit Bergsteigen zu tun: "Ich glaube, mein Vater wäre geschockt, wenn er sähe, wie kommerzialisiert der Berg geworden ist - und dass der Everest von heute eine Spielwiese für jene ist, die glauben, man könne quasi über Nacht zu richtigen Bergsteigern werden."