Angst vor der Sojaflut
26. November 2006DW-WORLD.DE: Von den 370.000 Indianern in Brasilien stellen die Guaranis und deren Untergruppen der Kaiowa, Nandéva und Mbya den größten Anteil. Seit 1990 hat sich ihre soziale Lage extrem verschlechtert. Die Selbstmordrate unter den Indianern ist stark angestiegen, 2005 starben fünf Kinder der Kaiowa an Unterernährung. Die Ursache: Die intensive Landwirtschaft zerstört den Lebensraum der Indianer. Wie bewerten Sie die aktuelle Situation der Guarani?
Rubem Thomaz de Almeida: Ich arbeite seit 33 Jahren mit den Guarani. Die Situation war noch nie so schlimm wie heute. Der Staat bleibt tatenlos und erweist sich als unfähig. Die Guarani werden von der nationalen Indianerbehörde (FUNAI), die sich von Amtswegen für die Belange der Indigenen einsetzen muss, schlicht vernachlässigt. FUNAI handelt nicht und wälzt stattdessen alles auf das Ministerium für Sozialentwicklung und Bekämpfung des Hungers (MDS) ab.
Die Staatsanwaltschaft, das so genannte "Ministerio Publico" (Sie hat laut Verfassung den Auftrag, sich für die Rechte der Indigenen besonders einzusetzen, d. Red.), kämpft mit Händen und Füßen für die Indianer. Aber vor Gericht werden ja nicht einmal die Gutachten der Anthropologen anerkannt, die offiziell damit beauftragt sind, festzustellen, welche Gebiete als traditioneller Lebensraum der Indianer anzusehen ist. Im Bundesstaat Mato Grosso do Sul werden derzeit Zustände geschaffen, die auf einen regelrechten Genozid hinauslaufen können.
Wo liegt der Grundkonflikt zwischen den Indigenen und den "Weißen" in Brasilien?
Das grundsätzliche Problem ist der Kampf um Land, es geht darum, welchen Lebensraum die Indianer zur Verfügung haben. Hier ist zwar durch die Demarkierung von Indianer-Reservaten einiges geschafft worden. Trotzdem haben verschiedene indigene Gruppe noch keine Gewissheit darüber, dass ihnen die zugesprochenen Ländereien auch wirklich gehören, vor allem die Indianer im Nordwesten des Landes und die Guarani, von denen es im ganzen Land zwischen 60.000 und 65.000 gibt. Sie sind die größte ethnische Gruppe im Land und die mit dem größten Landproblem. Die meisten von ihnen leben im Südosten, im Bundesstaat Mato Grosso do Sul. Dort finden sie riesige Sojafelder und Rinderherden.
Wie äußert sich das Landproblem?
Im Bundesstaat Mato Grosso wird der Raum für die Indianern immer enger. Dieser Prozess ist nicht neu. Zwischen 1880 und 1920 sahen sich die Indianer durch den Anbau von Matetee bedroht, danach kam die Holzindustrie, die die Wälder abholzte. Die Viehwirtschaft wurde vor allem in den 1960-er und 1970-er Jahren ausgeweitet. Seit den 1980-er Jahren greift der Soja-Anbau um sich. Es sollen in den nächsten Jahren 30 Fabriken in Mato Grosso do Sul gebaut werden, die Zuckerrohr zu Zucker und Alkohol verarbeiten werden. Mitten im traditionellen Indianerland der Guarani sollen 700.000 Hektar Sojafelder entstehen. Der brasilianische Staat kümmert sich einfach nicht um die Probleme der Guarani, deswegen sieht er sich auch gezwungen, Lebensmittelpakete gegen den Hunger zu verteilen.
1988 wurden die Rechte der indigenen Völker in der Verfassung explizit festgeschrieben. Wie fällt die Bilanz der Regierungen in Brasilien in Bezug auf den Umgang mit den Ureinwohnern aus?
Im politischen Umgang mit den Indigenen hat sich kaum etwas verändert, obwohl der Verfassungstext von 1988 den Urvölkern besondere Aufmerksamkeit widmet. Sie sollen in den Genuss besonderer Behandlung kommen, zum Beispiel durch das "Ministerio Publico", das ihnen hilft, ihre Rechte einzufordern. Doch es hat sich nicht viel getan, da sich die Entscheidungsträger von politischen und wirtschaftlichen Interessen leiten lassen und nicht von dem, was im Gesetz steht.
Hat es mit der Lula-Regierung Verbesserungen gegeben im Vergleich mit den Militärregierungen?
Der aktuelle Präsident der FUNAI ist eine absolute Fehlbesetzung. Die aktuelle Regierung hat beim Thema der Indigenen, vor allem was die Guarani betrifft, viel zu wenig getan. Man hat sich lediglich um die Befriedigung der Grundbedürfnisse gekümmert, um medizinische Versorgung oder den Kampf gegen Unterernährung, was ja alles Aufgaben des Ministeriums für Sozialentwicklung und Bekämpfung des Hungers (MDS) sind. Die FUNAI dagegen hat wenig vorzuweisen. Die Situation wird auch nicht besser, wenn nicht das Landproblem gelöst wird.
Der Anthropologe Rubem Thomaz de Almeida ist einer der besten Kenner der Kultur der Guarani und Kaiowa in Mato Grosso do Sul. Almeida hat verschiedene Studien über die Guarani veröffentlicht und ist als Berater für Regierungsstellen und Nichtregierungsorganisationen tätig.