Irak: Jesiden fühlen sich weiterhin bedroht
30. März 2021Es war eine wegweisende Entscheidung: Anfang März verabschiedete das irakische Parlament ein Gesetz, das die Gräueltaten der Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS) an der Minderheit der Jesiden als Völkermord anerkennt und ihnen Schutz zuspricht.
Der tragische Hintergrund: Als der IS zwischen 2014 und 2017 die Kontrolle über weite Teile des nördlichen Irak inne hatte, töteten, entführten und versklavten dessen Kämpfer tausende Mitglieder der ethnisch-religiösen Gruppe. Zehntausende waren gezwungen zu fliehen.
"Die Verabschiedung des Gesetzes stellt einen Wendepunkt dar", hieß es denn auch lobend seitens der Internationalen Organisation für Migration (IOM), einer Institution, die zu den Vereinten Nationen gehört. Besonders hob die IOM hervor, dass das Gesetz vor allem attackierte jesidische Frauen schütze: Es mache den Irak zu einem der ersten arabischen Länder, die "institutionelle Aufmerksamkeit auf weibliche Überlebende konfliktbedingter sexueller Gewalt" richteten.
Auch der irakische Präsident Barham Salih begrüßte das Gesetz, das offiziell auch weitere Minderheiten wie Christen, Turkmenen oder Schabak schützen soll, als "wichtigen Schritt" und unterzeichnete es symbolkräftig am Internationalen Frauentag.
Unterstützung für Frauen
Das Gesetz verpflichtet den Staat, den Opfern des IS zu helfen. Dies gilt in erster Linie für die weiblichen Überlebenden, die entführt und später befreit worden waren. Durch das Gesetz verpflichtet sich der irakische Staat, ihnen und weiteren traumatisierten IS-Opfern ein monatliches Stipendium, Immobilien oder kostenlosen Wohnraum sowie psychologische Unterstützung zur Verfügung zu stellen. Überlebende von IS-Angriffen haben im Irak nun zudem Anspruch auf bevorzugte Einstellung bei zwei Prozent der Stellen im öffentlichen Dienst.
Auch die damals entführten jesidischen Kinder sollen Unterstützung erhalten. Ebenso ist der rechtliche Status derjenigen Kinder geregelt, die während der Gefangenschaft von Überlebenden geboren wurden. Dieser Punkt ist freilich innerhalb der jesidischen Gemeinschaft umstritten, Kinder aus Vergewaltigungen versklavter Jesidinnen durch IS-Mitglieder werden von der Community oft abgelehnt.
Das Gesetz erklärt den 3. August - den Tag eines IS-Großangriffs auf jesidische Gemeinden 2014 - zum nationalen Gedenktag. Zudem wird in der nordirakischen Provinz Ninive ein spezielles Regierungsbüro für Anliegen der weiblichen jesidischen Überlebenden eingerichtet. Dort befindet sich der Distrikt Sindschar, in dem einst die Mehrheit der irakischen Jesiden lebte.
Skepsis unter den Betroffenen
Doch nicht alle Iraker stimmt das neue Gesetz optimistisch - am wenigsten die Jesiden selbst. Zwar zielt es darauf ab, künftige Überfälle zu verhindern. Dass es dieses Versprechen einhalten kann, daran mögen viele Jesiden aber nicht glauben.
Gewiss, der Gesetzentwurf sei für die weiblichen Überlebenden grundsätzlich erst einmal positiv, sagt beispielsweise Ghazala Jango, eine Jesidin aus Sindschar. Die meisten Frauen hätten nämlich niemanden, der sie unterstützt. "Ihre sämtlichen Familienmitglieder wurden getötet." Jango selbst war 18 Jahre alt, als die Extremistengruppe im Jahr 2014 Sindschar angriff. Schätzungen zufolge wurden seinerzeit rund 10.000 Jesiden während des Angriffs getötet oder entführt. Zehntausende weitere mussten fliehen - auch Jango. Sie entkam zu Fuß.
"Nur Unterstützung, kein Schutz"
Inzwischen ist sie nach Sindschar zurückgekehrt. Dort arbeitet sie heute für die Organisation "Youth Bridge", die jesidische Familien dabei unterstützt, in ihre Häuser zurückzukehren. Das neue Gesetz werde zwar helfen, die finanzielle Situation der weitestgehend verarmten Jesiden zu verbessern, so Jango. Allerdings könne es den Überlebenden nicht helfen, sich sicherer zu fühlen: "Es ist nur finanzielle Unterstützung und garantiert keinen Schutz", sagt Jango.
Obwohl der IS im Irak offiziell längst besiegt sei, fühlen sich viele Jesiden weiterhin nicht sicher, sondern immer noch als Minderheit bedroht, betont sie.
Andere Jeziden teilen diese Skepsis. "Ich hoffe, dass dieses Gesetz nicht nur auf dem Papier besteht, sondern sich tatsächlich als praktische Lösung zur Hilfe erweist", sagt Ahmed Khudida Burjus, stellvertretender Direktor von "Yazda", einer Lobby-Organisation für verfolgte Jesiden. "In den vergangenen sechs Jahren wurden viele Versprechen gemacht, doch es hat sich nur sehr wenig getan. Vom IS verwüstete Dörfer und Städte liegen immer noch in Trümmern", klagt Burjus im DW-Gespräch.
Grundsätzlich gehe es um weit mehr als nur Wiederaufbau, so Burjus: "Alles hängt miteinander zusammen: Sicherheit, Gerechtigkeit, Wiederaufbau und Entwicklung."
Auch er meint: Das neue Gesetz sei aus Sicht jesidischer Überlebenden zwar positiv - aber längst nicht ausreichend. Das eigentliche Problem seien die im Irak weiterhin sehr stark verbreiteten Vorurteile und Falschinformationen über die Jesiden und ihre Religion, sagen Burjus und andere Vertreter der Gemeinschaft.
Verfemt als "Teufelsanbeter"
Lange Zeit als "Teufelsanbeter" verfemt, reicht die Geschichte der Verfolgung der Jesiden bis ins 16. Jahrhundert zurück. Viele Gruppen - von den in ihr Siedlungsgebiet eindringenden Türken bis hin zu den dort lebenden Kurden - versuchten, sie zum Islam zu bekehren. "Ich bin der Nachkomme von 72 Völkermorden" - das ist heute immer noch ein gängiger Satz unter Jeziden.
"Die Jesiden haben alles verloren. Darum vertrauen sie heute weder der kurdischen noch der irakischen Regierung", sagt auch Saud, ein 26-jähriger Jeside im Exil, der seinen richtigen Namen nicht öffentlich nennen möchte. Er fürchtet, mit seinen Äußerungen das lokale irakisch-kurdische Militär gegen sich aufzubringen.
Misstrauen zwischen Nachbarn
Sauds Kritik bezieht sich nicht zuletzt auf das Jahr 2014. Damals sollten irakisch-kurdische Kräfte im Sindschar-Gebiet - es grenzt an die halbautonome nördliche Region Irakisch-Kurdistan - für Sicherheit sorgen. Doch als der IS angriff, zogen sich die vermeintlichen Schutzkräfte zurück und überließen die Zivilisten ihrem Schicksal. "Unsere Nachbarn sind Sunniten und Kurden. Wir wurden von allen diesen Stämmen verraten", schimpft Saud, der 18 Monate lang in irakischen Vertriebenenlagern lebte, bevor er im Ausland Asyl erhielt. Gerne würde er in den Irak zurückkehren, sagt er. Aber er sehe dort seine Sicherheit nicht garantiert.
Appell zur Versöhnung
Die im Gesetz vorgesehene Unterstützung reiche nicht aus, um den Jesiden im Irak eine sichere Heimat zu bieten - sagt auch der Psychologe Jan Ilhan Kizilhan, Professor an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW). Nötig sei dafür vielmehr eine Verständigung und Versöhnung zwischen den Jesiden und jenen Muslimen, die den IS unterstützt hätten, so Kizilhan, der mit mehr als tausend jesidischen Überlebenden in Deutschland gearbeitet hat.
Noch aber bestünden zahlreiche negative Einstellungen gegenüber Jeziden fort, beklagt Ahmed Khudida Burjus von "Yazda". Ablehnung und Misstrauen durchdrängten die irakische Gesellschaft weiterhin. "Die Mehrheit der irakischen Bevölkerung sieht Jesiden als Ungläubige an", so Burjus. "Wenn sie in Restaurants arbeiten, isst niemand ihr Essen - weil es von einem Jesiden zubereitet wurde."
Aus diesem Grund fühlten die Jesiden sich grundsätzlich nicht sicher, so Burjus. Er sagt, was viele denken und fürchten: "Sobald sich eine Gelegenheit ergibt, wird die nächste extremistische Gruppe die Jesiden angreifen. Das ist nur eine Frage der Zeit."