Krieg auf dem Sinai
30. Januar 2015Die jüngsten Anschläge auf der Sinai-Halbinsel am Freitag und am Donnerstagabend gingen auf das Konto der Islamisten. Doch Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi sei zumindest mitverantwortlich für die Eskalation der Gewalt, meint Stephan Roll, der sich für die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) mit der Lage in Ägypten beschäftigt.
Im Interview mit der DW spricht Roll von einem "Krieg zwischen dem ägyptischen Sicherheitsapparat und dschihadistischen Gruppen, die offensichtlich auch Unterstützung in Teilen der lokalen Bevölkerung haben". Über Twitter bekannte sich die Gruppe "Wilaja Sina" ("Staat Sinai") zu den "umfassenden, simultanen Attacken" vom Donnerstagabend. Die Terrormiliz hatte sich 2011 auf der Sinai-Halbinsel gegründet, damals unter dem Namen Ansar Beit al-Makdis ("Unterstützer Jerusalems"). Anfang November schworen ihre Mitglieder dem IS-Anführer Abu Bakr al-Bagdadi die Treue.
Gezielte Angriffe auf Militäreinrichtungen
Die Angreifer hatten es vor allem auf ägyptische Militär- und Polizeieinrichtungen abgesehen. Auf einer Internetseite gaben sie an, bei insgesamt vier Angriffen unter anderem eine Armeebasis angegriffen zu haben.Ein hochrangiger Vertreter der Sicherheitsbehörden sagte der Deutschen Presse-Agentur, es seien bei der Attacke am Donnerstag 40 Sicherheitskräfte getötet und 30 weitere verletzt worden. Die meisten Toten waren Soldaten. "Wilaja Sina" wird für den Tod Hunderter ägyptischer Sicherheitskräfte auf der Sinai-Halbinsel seit 2011 verantwortlich gemacht.
Doch auch Zivilisten fallen der Gewalt auf der Sinai-Halbinsel zum Opfer. Am Freitag, nur einen Tag nach der Anschlagsserie, kam es zu neuen Gefechten: Zwei Kinder wurden bei einem Raketenangriff getötet, teilten Ärzte mit. Offiziell bekannt hat sich zum dem Anschlag noch niemand.
Beduinen gegen die Zentralregierung
Der Sinai grenzt an den strategisch und wirtschaftlich wichtigen Suezkanal - Öl und Gas aus den Golfstaaten werden über diesen Weg nach Norden transportiert. Drei Kriege haben Israel und Ägypten zwischen 1956 und 1973 um die Sinai-Halbinsel geführt. Seit dem Camp-David-Abkommen von 1978/79 zwischen Israels Ministerpräsident Menachem Begin und Ägyptens Präsident Anwar as-Sadat kontrolliert Ägypten die Wüstenregion.
Doch die Beduinen haben traditionell ihre eigenen Strukturen. Für viele wurde Schmuggel zu einer wichtigen Einnahmequelle: Drogen, Waffen und Lebensmittel werden vor allem in den von Israel isolierten Gaza-Streifen transportiert. Mitunter sorgt dies für ein angespanntes Verhältnis zur Zentralregierung in Kairo.
Repressionen gegen moderate Islamisten
Während der langjährige Machthaber Husni Mubarak es noch verstand - auch gemeinsam mit Israel - halbwegs für Ordnung und Sicherheit auf der dünnbesiedelten Halbinsel zu sorgen, entstand nach dessen Sturz im Jahr 2011 ein Machtvakuum. Nachdem im Mai 2013 erneut Sicherheitskräfte in der Nähe von al-Arisch entführt wurden, wurde der Sinai für Mubaraks Nachfolger Mohammed Mursi zur Achillesferse: Das ägyptische Militär warf ihm vor, er gehe zu wenig gegen die islamistische Hamas aus dem Gaza-Streifen vor, weil sie ideologisch seiner Muslimbruderschaft nahestehe. Was folgte, ist Geschichte: Das Militär nutzte die antiislamistische Stimmung in der ägyptischen Bevölkerung und setze Mursi ab.
Seitdem al-Sisi am 8. Juni 2014 an die Macht kam, hat sich die Sicherheitslage auf dem Sinai "massiv verschlechtert", sagt Stephan Roll von der SWP. "Das hängt damit zusammen, dass al-Sisi einen absolut harten, brutalen und rigorosen Kurs gegen jegliche islamistische Opposition im Land fährt. Dadurch bekommen militante dschihadistische Gruppen, die eben auch auf dem Sinai operieren, verstärkt Zulauf." Aktuell wird die Zahl der Kämpfer der Miliz "Staat Sinai" auf 2000 geschätzt.
Polarisiert al-Sisi bewusst?
Al-Sisi erreicht folglich mit seinem harten Vorgehen auch gegen moderate Islamisten genau das Gegenteil: Er sorgt dafür, dass auch moderate Islamisten sich radikalisieren und sich Gruppen wie "Wilaja Sina" anschließen. Dies sei "überhaupt nicht der richtige Kurs", kritisiert Stephan Roll. Doch er vermutet, dass al-Sisi diese "Polarisierung ganz bewusst vorangetrieben" habe, "um letztlich dem Ausland zu demonstrieren, dass er sich im Kampf gegen den extremistischen Terrorismus befindet". Denn nur so kann er rechtfertigen, weiterhin großzügig Militärhilfe, vor allem aus den USA, zu erhalten.
Die Rechnung geht auf: Auch nach den jüngsten blutigen Anschlägen sprachen etwa die USA und Deutschland neben den Opfern auch der ägyptischen Regierung ihre Solidarität aus. Die Sprecherin des US-Außenministeriums sagte der Regierung in Kairo die anhaltende Unterstützung der Vereinigten Staaten im Kampf gegen den Terrorismus zu.
Gewaltspirale dreht sich weiter
Möglicherweise sind Solidaritätsbekundungen in Richtung des ägyptischen Regimes nicht förderlich, wenn es darum geht, langfristig für Frieden in und um Ägypten herum zu sorgen. Der Nahost-Experte Stephan Roll hält es diesbezüglich für hilfreicher, wenn sich die USA, wie auch andere außenpolitische Player, deutlich von dem brutalen Kurs des al-Sisi-Regimes distanzieren würden.
Anstalten, sich auf die Extremisten zuzubewegen, macht Staatspräsident al-Sisi nicht. Aus seinem Büro hieß es, der Präsident habe nach den Anschlägen auf dem Sinai seinen Aufenthalt beim Gipfel der Afrikanischen Union im äthiopischen Addis Abeba abgebrochen und sei nach Kairo zurückgekehrt. Von dort aus wolle er die Lage auf dem Sinai überwachen.
Wie lange hält sich al-Sisi noch?
Doch um die Gewaltspirale auf dem Sinai zu unterbrechen, sei eine politische Lösung notwendig, so Stephan Roll. Andernfalls drohe die Gewalt auch auf den Rest des Landes überzugehen. Anzeichen dafür gibt es schon jetzt: Zuletzt kam es etwa in Kairo häufiger zu Anschlagsversuchen.Dass al-Sisi daran interessiert ist, moderate Islamisten in den politischen Prozess einzubinden, hält der Nahost-Experte jedoch für unwahrscheinlich.
Ein wahrscheinlicheres Szenario sei, dass die Gewalt zunächst einmal weiter zunehme und damit auch die Armut im Land, das vor allem von Tourismus lebt. Hier sieht Stephan Roll den "Knackpunkt": Wenn das Militär, eine wichtige Institution in Ägypten, durch al-Sisis Kurs seine eigene Stellung gefährdet sieht, sei es "nicht völlig undenkbar, dass die Militärführung versucht, auf andere Personen zu setzen". Das würde einen erneuten Militärputsch bedeuten. Nach Mubarak und Mursi würde das Militär al-Sisi stürzen. Geschichte würde sich wiederholen.