Jenseits des Jazz: Das Moers Festival 2019
6. Juni 2019Moers, Ende der 1960er Jahre: Im Kielwasser der 68er-Bewegung hatte eine kleine Gruppe Musikbegeisterter die Idee eines eigenen Jazzfestivals in der "kleinsten Großstadt Deutschlands", wie die Moerser ihr 100.000-Einwohner-Städtchen liebevoll nennen. 1972 war es endlich soweit, und der erste künstlerische Leiter Burkhard Hennen organisierte das "Internationale New Jazz Festival Moers", wie es damals noch hieß. 34 Jahre lang leitete Hennen in der Folge das Festival und machte es schnell groß: Internationale Stars und Jazzfans pilgerten jedes Jahr zu Pfingsten in die Kleinstadt am Niederrhein.
Ein Festival spaltet seine Stadt
"In den ersten Jahren konnte man die Hippies, die Avantgarde-Freaks aus aller Welt, die in die Stadt einfielen, sofort optisch erkennen", erzählt Festivalleiter Tim Isfort. Er kennt beide Seiten der Medaille besser als jeder andere hier, denn er ist nicht nur gebürtiger Moerser, sondern ist selbst jahrelang als Jazzmusiker durch die Welt getourt. Es habe oft Unverständnis seitens der Einwohner gegenüber den Experimentalfans geherrscht, erinnert er sich. Das Festival polarisierte von Tag Eins an. Isforts eigene Eltern gingen mit ihrem Sohn am Wochenende zum Hippies-Gucken, ganz so, als wäre das Festival auch eine Art Freakshow.
Über die Jahre traten in Moers immer mehr Jazzgiganten auf, und die Moerser entwickelten einen gewissen Stolz auf das internationale Event in ihrer Stadt. Das Festival wurde größer und renommierter, gleichzeitig aber auch elitärer. Als Isfort 2017 die Leitung übernahm, war das Musikfest an den Ortsrand gezogen und hatte sich von seiner Stadt entfremdet. Unter den Moersern herrschte das Bild vom Festival als "elitäre Geldverbrennungsmaschine von Kunst und Hochkultur. Das hat mit uns Moersern nichts mehr zu tun", beschreibt Isfort die Stimmung damals. "Das war das Schlimmste, was passieren konnte. Es darf nicht sein, dass den Moersern das Festival egal ist. Liebe oder Hass sind okay, aber egal geht nicht."
Musik als Virus
Sofort traf Isfort eine ganze Reihe von Maßnahmen, um der wachsenden Entfremdung des Festivals von seinem eigenen Spielort entgegenzuwirken. Darunter die Reihe "moersify". Hinter dem Namen versteckt sich die Vorstellung von einer Art Virus, das sich in der Stadt verbreiten soll und unter anderem das Bürgermeisterbüro, ein Hallenbad oder einen Friseursalon in Konzertorte verwandelt. Die gleichen Musiker, die beim selben Festival für Geld in Sälen spielen, performen im Rahmen der Reihe an Orten, wo man sie ganz und gar nicht erwartet – gratis und unplugged. Moerser, die bis dato nichts mit dem Festival anfangen konnten, sollen so einen Zugang dazu bekommen. Und das Virus beginnt zu wirken: Ein Drittel der Eintrittskarten wird mittlerweile wieder von Einheimischen gekauft. Und das, obwohl es keinerlei "Beschwichtigungsangebote" gibt, wie Isfort sagt. "Auch auf den Außenbühnen gibt es keinen stadtfestartigen gefälligen 'Rotwein'-Jazz, kein Anbiederungsprogramm. Auch hier müssen die Leute das gleiche Programm über sich ergehen lassen wie innen", sagt er lachend.
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Das Moers Festival will alles sein, nur bitte kein Mainstream. Isfort und sein Team wollen die Zuschauer, die Musiker und sich selbst fordern. Bei über 100 Programmpunkten ist die musikalische Bandbreite enorm. Mit einem Mix aus freier Improvisation, NewJazz, World, Avantgarde, zeitgenössischer Musik, Minimal Music, Klangkunst, Drone und Electro will Moers ganz bewusst Nische sein und die "Bühne für das Unerhörte" bieten. Und auch dem Klischee der humorlosen Intellektuellen will Isfort entgegentreten. So spielt das legendäre Sun Ra Arkestra dieses Jahr in der örtlichen Filiale des Elektrohandels Saturn – schließlich behauptete Bandgründer Sun Ra immer wieder, er käme vom gleichnamigen Planeten. Selbst die Pressekonferenzen in Moers arten in Kunst-Happenings aus. Isfort und Co. setzten sich einmal während der Programmpräsentation in ein Schwimmbecken, das nach und nach voll Wasser lief. Dabei ließen sie sich live von Musikern mit improvisierten Sounds begleiten.
Die "Moers-Energie"
Mittlerweile hat das Moers Festival das Wort "Jazz" ganz aus seinem Namen verbannt. Warum eigentlich? "Ich liebe Jazz, aber ich möchte nicht in den Kontext der Jazzfestivals eingereiht werden", so Isfort. Statt zu den großen Festivals wie Montreux oder New York, die teilweise "nur noch Abziehbilder ihrer selbst" seien, reist er lieber ins Grenzgebiet zwischen Indien und Pakistan, nach Nordkorea und São Paulo und sucht wie ein Trüffelschwein nach neuen Trends und Szenen, nach Einzelkünstlern, die etwas mitbringen. "Ich suche eine bestimmte Energie, die nach Moers gehört."
Einer, der diese "Moers-Energie" mitbringt, ist der 32-jährige Vibrafonist Emilio Gordoa aus Mexiko, der diesjährige "improviser in residence". Als solcher ist er eine Art Stadtmusiker, der ein Jahr lang in Moers lebt und wirkt und so eine Verbindung zwischen dem Festival und der Stadt herstellt. Der Klangforscher arbeitet mit Klangtexturen und Resonanzen, er improvisiert mit Klangkörpern, elektronischen Elementen und Feedbacks und bearbeitet das Vibrafon und andere Schlaginstrumente an Stellen, mit denen man nicht rechnet. "Für mich ist Moers kein Jazzfestival", sagt er. "Es ist ganz offen." Emilio war schon bei der letztjährigen Ausgabe dabei, dieses Jahr tritt er bei einem Unterwasserkonzert auf und spielt mit seinem M0VE Quintet. Für Emilio ist seine "residency" eine neue Möglichkeit, Dinge zu kreieren. Während er in seiner Wahlheimat Berlin alles selbst organisiert und managt, hat er hier Unterstützung und macht Workshops zum Thema Klänge und Geräusche mit Schülern.
Subvention und Verantwortung
Wie so ein großes Festival mit so einer "abenteuerlichen" Musik so lange in dieser Stadt funktioniert, darüber wunderte sich der Mexikaner, der in seiner Heimat selbst einige Neue-Musik-Festivals organisiert hat, dann schon.. "Ganz ehrlich: Ich verstehe nicht, warum", sagt er lachend. Die Antwort ist Förderung. Das gesamte Festival ist eine hochsubventionierte Veranstaltung und könnte ohne diese Gelder nicht überleben. So wird Emilios Aufenthalt in Moers von der Kunststiftung NRW bezahlt. Weitere Förderer sind unter anderem der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, das Kulturministerium des Landes Nordrhein-Westfalen und die Stadt Moers. Festivalleiter Tim Isfort kennt die Kritikpunkte an subventionierten Veranstaltungen. Zum Beispiel die Frage, ob so ein Festival noch zeitgemäß sei.
Genau deshalb sind Isfort und sein Team so interessiert daran, am Puls der Zeit zu sein. Er und seine Mitstreiter betreiben rund ums Jahr Feldforschung, sie gehen in die Clubs, jammen mit serbischen Jazzern in verrauchten Kneipen oder lauschen brasilianischen Improvisatoren in deren Heimat. Die Musikauswahl in Moers ist auch ein politisches Statement, sie ist nicht nur gelebte Klang-, sondern auch Weltoffenheit. Im Jahr 2018 sind hier 450 Musiker aus 22 Ländern und fünf Kontinenten aufgetreten.
"Strengt euch an!"
2019 gibt es ein völlig neues Bühnenbild in der Haupthalle des Festivals. Nichts soll erwartbar sein oder so bleiben, wie es war. Denn in der Gesellschaft hat laut Isfort die Haltung, dass sich nicht zu viel verändern soll, zu nichts Gutem geführt und fliegt der Welt jetzt in Form von Flüchtlingskrise und Klimawandel um die Ohren. "Wir alle müssen uns jetzt anstrengen und überlegen, in was für einer Welt wir leben wollen", so Isfort. Darum heißt das diesjährige Motto denn auch: "Strengt euch an!" Auf dem Festivalplakat ist ein Elefant auf einem Berg aus Schrott zu sehen, der seinen Rüssel nach dem Mond ausstreckt. Damit will man beim Festival zeigen: Es gibt immer neue Perspektiven.
Alles, nur kein Stillstand. Darum finden auch Diskussionen statt, zum Beispiel zwischen Politikern und Musikern. In Moers gibt es Sonderprojekte, Weltpremieren und Uraufführungen. Dieses Jahr unter anderem das "Global Improvisers Orchestra" mit Musikern aus Myanmar, Südamerika und anderen Ländern, die nur einmal zusammen proben. Niemand weiß im Vorfeld, was bei ihrem Auftritt herauskommen wird, auch Isfort selbst nicht. "Diese Möglichkeit, diese Bühne soll Moers sein. Es soll Fragen stellen, es soll aufrütteln." Auf die Bitte, Moers in drei Begriffen zu beschreiben, sagt Isfort abschließend: "Erstens: doch!, zweitens: unterwandern und drittens: ungeschoren davonkommen."
Das 48. Moers Festival findet vom 7.-10. Juni 2019 statt.