Hamburgs bedrohte Kult-Clubs
8. April 2013Ob das wirklich eine gute Idee ist? Eine Band, die sich "Trümmer" nennt, in einen Musik-Club einzuladen, den ein bayerischer Großinvestor am liebsten sofort abreißen würde? Andi Schmidt, weiße Turnschuhe, lässige Cord-Jacke, schmunzelt. Ihm gehört das "Molotow", seit mehr als 20 Jahren eine feste Größe am Spielbudenplatz direkt an der Reeperbahn. Trotz des drohenden Unheils hat Schmidt seinen Humor nicht verloren. "Wieso?" fragt er und macht eine kleine Pause. "Direkt nach 'Trümmer' spielt die Band 'Messer'. Das sollte auch kein böses Omen sein."
Ein Freitag im März, kurz nach 21 Uhr. Das Wochenende ist eröffnet und die Hamburger fürchten sich offenbar nicht vor Trümmern und Messern: Vor dem "Molotow" warten Dutzende bei eisigen Temperaturen mit Wollmützen und hochgezogenen Kragen in einer Schlange. Ein weißes Transparent spannt sich über dem rotgestrichenen Eingang. "Kein Abriss!", steht darauf, daneben hängt, fast trotzig, eine kleine Plakette: "Kulturschutzgebiet".
Und wer hat hier schon alles gespielt: "Die Toten Hosen", "The White Stripes", "Mando Diao", "Sportfreunde Stiller"! Viele waren auf der kleinen Bühne bevor sie große Stars wurden. Sein Team habe eben oft "ein gutes Händchen" bei der Auswahl gehabt, sagt Andi Schmidt. Manchmal war es auch Glück. Als er 2004 die US-amerikanische Rockband "The Killers" buchte, kannte die in Deutschland noch kaum jemand. Das änderte sich in den Monaten bis zum Auftritt: Die Killers stürmten die Charts und die Menschen das "Molotow", um Karten für den ersten Deutschland-Auftritt zu ergattern. "Lange Schlangen, weinende Menschen", erinnert sich Schmidt. "Da spielten sich Dramen ab."
19 Stufen hinab ins Nachtleben
An diesem Abend bleiben die Dramen aus, langsam schieben sich die Menschen die 19 Stufen einer schmalen Kellertreppe herunter. Der Club, zusammengefasst in drei Worten: intim, rot, eng. Schallplatten baumeln von der Decke. Der Tonmischer hockt eingesperrt wie ein Kanarienvogel hinter einem Drahtverhau. Die Decke ist stellenweise beängstigend niedrig, Hünen sollten lieber nicht springen. Und im Sommer tropft von oben kondensierter Schweiß ins Publikum.
Auf der Bühne, vielleicht acht Quadratmeter groß, stehen jetzt drei junge Männer. "Wir sind Trümmer", stellt sich das Hamburger Rock-Trio lakonisch vor, dann lassen ihre Gitarren die Bierflaschen in den Händen vibrieren. "Wenn alles in Schutt und Asche liegt", singt Frontmann Paul Pötsch, "und uns um die Ohren fliegt". Das passt zur aktuellen Situation. "In Ketten" würde sie sich vor ihr "Wochenend-Wohnzimmer" setzen, um den Abriss zu verhindern, sagt Jasmin Thiele, 22 Jahre. So ein "geiler, ranziger Kellerclub" sei einfach einmalig. Vorne auf der Bühne ruft "Trümmer"- Sänger Paul Pötsch derweil wütend, Hamburg werde noch zur Spießer-Stadt, wenn es so weitergehe. Danach besingt er lieber Utopie und Unvernunft.
Totenkopf-Pullis und harmlose Evergreens
Natürlich: Kiez und Reeperbahn sind keine Freiluft-Museen. Doch viele in St. Pauli haben das Gefühl, dass die Geschwindigkeit der Veränderung ihr Viertel bald zur Unkenntlichkeit entstellen könnte. Denn nicht nur das "Molotow" ist vom Abriss bedroht, sondern gleich ein ganzer Wohnblock mit weiteren Bars. Namensgeber dieser gefährdeten Häuser ist die legendäre Esso-Tankstelle. Im Grunde ist auch sie eine Kneipe, weil dort am Wochenende mehr Dosenbier als Benzin getankt wird und Türsteher Betrunkene zurechtweisen. Die "Esso-Häuser" seien einsturzgefährdet und nicht sanierbar, argumentiert der Investor. Es gehe nur ums große Geld, glauben die Mieter. Andi Schmidt fürchtet: "Wenn auch dieser Block fällt, hat die Reeperbahn bald nichts mehr mit der Reeperbahn zu tun."
Doch noch schlägt das Herz von St. Pauli - und wie! Dazu muss man nur in die gleichnamige Bar gehen, keine 20 Meter vom "Molotow" entfernt. Es ist kurz nach Mitternacht und der "AC/DC"- Hit "You Shook Me All Night Long" dröhnt durch die Boxen. Die Tanzfläche ist voll, Bier steht in kleinen Pfützen auf dem Boden, unter der Decke funkeln tischtennisballgroße Discokugeln. Das Publikum ist hier im Durchschnitt zehn Jahre älter, die Haare lichter, die Bauchansätze ausgeprägter. Wer hierher kommt, sucht nicht nach innovativer Musik. Sondern nach Astra-Bier, Flirts und den Party-Krachern der letzten Jahrzehnte. Auch das gehört zur Reeperbahn.
Da ist etwa Corinna, blonde Haare, 41 Jahre. "Auf dich", sagt ein Mann in schwarzem St. Pauli-Pulli mit Totenkopf und stellt ihr ein Bier auf den Kopf. Die Menschen sind in Feierlaune. "Hast du mitgekriegt, Pauli hat in der letzten Minute das 3:2 geschossen!", sagt Corinna beschwingt. Auch sie trägt einen Fan-Pullover. Vielleicht gibt es ja auch eine ähnlich wundersame Last-Minute-Rettung der Esso-Häuser, schließlich hat das zuständige Bezirksamt noch nicht entschieden. Wild mischt der DJ nun die Musikrichtungen, nach "AC/DC" grölt die Menge zu "Ich will Spaß, ich geb' Gas" und "Blinded by the light". Männer in bösen Totenkopf-Pullovern zucken zu harmlosen Evergreens.
Oben rattert die Bahn, unten bebt die Tanzfläche
Es ist halb eins - seit Hans Albers eine mystische Zeit, doch draußen ist bei der Kälte wenig los. Nur eine Tür neben dem „Herz von St. Pauli“ lockt der nächste volle Tanzclub. "Hörsaal" heißt er, und zu Funk tanzen unter einer großen Traube aus 21 Discokugeln sicher auch etliche Studenten - rein optisch vermutlich aus dem Fachbereich Betriebswirtschaftslehre.
Plattencover aus den Sechzigern hängen an der Wand, doch warum in dem gediegenen Ambiente eine lange Rakete unter der Decke baumelt, weiß hier niemand. Schon gar nicht der Mann am Kicker-Tisch, Typ Möchtegern-Zuhälter in Anzug. Offenbar ist er so betrunken, dass niemand mit ihm Tischfußball spielen will. Auch das macht den Kiez aus, keine Kneipentour ohne skurrile Leute. "Hey Lockenkopf, komm schon, diese Penner ziehen wir ab", brüllt der Zuhälter-Verschnitt und deutet auf die Spieler am Kickertisch.
Zeit zu gehen - auch weil es noch mehr bedrohte Clubs zu besuchen gibt. Gut 20 Minuten Fußweg von den "Esso-Häusern" entfernt liegt unter einer alten Eisenbahn-Brücke die musikalisch angesagteste Straßenkreuzung der Stadt. Über der Ecke Stresemannstraße/Max-Brauer-Allee rattern Fernzüge und S-Bahnen, in den drei Clubs darunter beben die Tanzflächen.
Die letzte große Geburtstags-Sause
Etwa in der winzigen "Astra-Stube". Sie könnte die kleine Schwester des "Molotow" sein, nur über Tage: oft hoffnungslos ausverkauft, viel Rot, Musiker zum Anfassen. Es ist inzwischen 2 Uhr nachts, doch die Stube ist immer noch voll, auch wenn heute gar keine Live-Band spielt, sondern die DJs "nord amused" Elektro auflegen. Im Club "Waagenbau" nebenan ist sogar noch mehr los, die Menschen stehen Schlange. Zeit für Fachdiskussionen, drei Mädels streiten lautstark, wo einige Szenen von Fatih Akins Kultfilm "Soul Kitchen" gedreht wurden: Im "Waagenbau" (falsch!) oder in der „Astra-Stube“ (richtig!)? Am Ende einigen sie sich, den Film noch einmal zu gucken, aber jetzt wird erst einmal gefeiert.
Wer weiß, wie lange das noch geht: Die Deutsche Bahn will die Brücke sanieren, schon 2009 wurde den Clubs deswegen gekündigt. Erst nach Protesten wurden die Mietverträge noch bis Ende 2013 verlängert. Und so feiert der "Waagenbau" an diesem Wochenende im März vielleicht seinen ersten und letzten runden Geburtstag. Drinnen, in den dunklen Gewölben und Kasematten, die in zwei große Tanzflächen münden, wummern die Bässe: Techno, House, Drum'n'Bass. Rauch wabert über die Tanzfläche, Alu-Schnipsel regnen von der Decke auf die zuckende Menge. Hier ist längst noch nicht Schluss. Zumindest nicht heute.