Das Ende der Ära Löw?
28. Juni 2018In der Fußballsprache könnte man sagen: Da spielt ein Team auf Zeit. Teammanager Oliver Bierhoff, DFB-Präsident Reinhard Grindel und (Noch-)Bundestrainer Joachim Löw wollen sich am Tag nach dem Ausscheiden des deutschen Teams nicht zu möglichen personellen Änderungen äußern. Jedenfalls jetzt noch nicht. Löw will erst nach einer
eingehenden Analyse über mögliche Konsequenzen aus dem WM-Debakel entscheiden. "Es braucht tiefgreifende Maßnahmen, es braucht klare Veränderungen, und das müssen wir jetzt besprechen, wie wir das tun", sagte der DFB-Chefcoach nach der Rückkehr der deutschen Nationalelf aus Russland am Donnerstag am Frankfurter Flughafen. Bierhoff ergänzte: "Gegen Ende der nächsten Woche werden wir zusammenkommen und dann weiterdiskutieren." Und Grindel nannte ebenfalls die "kommende Woche" als zeitlichen Rahmen für weitere Schritte. Die Führung von DFB und Nationalelf muss das unerwartete Aus erst einmal sacken lassen.
"Visionär und Entwickler"
Ob Joachim Löw am Abend der bitteren WM-Pleite gegen Südkorea an Philipp Lahm gedacht hat? Oder an Per Mertesacker und Miroslav Klose? Die hatten nach dem WM-Triumph 2014 in Brasilien ihre Nationalmannschaftskarriere beendet - auf dem Höhepunkt. Wäre auch Löw zurückgetreten, hätte das wahrscheinlich jeder verstanden. Acht Jahre lang hatte er darauf hingearbeitet, eine neue deutsche Fußballergeneration geformt und sie schließlich zum größtmöglichen Triumph geführt. Mehr ging eigentlich nicht. Doch Löw machte weiter.
Der 58-Jährige bezeichnete sich danach einmal als "Visionär und Entwickler". Löw sah sich noch nicht am Ende seines Wegs. Er wollte eine weitere junge Spieler-Generation an die Spitze führen, die einen noch schnelleren, noch attraktiveren, noch erfolgreicheren Fußball spielen würde. Der Halbfinal-K.o. bei der Europameisterschaft 2016 gegen Gastgeber Frankreich war bitter, aber noch kein Beinbruch. Schließlich wartete auf Löw das höhere Ziel: der fünfte Stern, die erfolgreiche Titelverteidigung bei der WM 2018 in Russland.
Übergroßer Pool an Talenten
Ein Jahr davor schien auch alles wie am Schnürchen zu laufen: Im Sommer 2017 gewannen deutsche Auswahlmannschaften innerhalb von drei Tagen zunächst die U21-Europameisterschaft in Polen und dann auch den Confed Cup. Beim WM-Vorbereitungsturnier in Russland ließ Löw ein junges "Perspektivteam" spielen, das alle Erwartungen übertraf. Da war sie doch schon, die neue Generation. Alle Experten waren sich damals einig: Löw kann aus einem so großen Reservoir an talentierten Spielern schöpfen, dass im Kampf um den WM-Titel kein Weg an der DFB-Elf vorbeiführt. Auch die WM-Qualifikation schien dies zu bestätigen: Mit der makellosen Bilanz von zehn Siegen in zehn Spielen löste Löws Mannschaft das WM-Ticket.
Vorzeichen ignoriert?
Der Nationaltrainer hat die Sache im Griff - daran zweifelte zu diesem Zeitpunkt niemand. Auch nicht, als die Testspiele gegen England (0:0) sowie die WM-Mitfavoriten Frankreich (2:2), Spanien (1:1) und Brasilien (0:1) enttäuschend verliefen. Selbst nach der 1:2-Niederlage in Österreich und dem mageren 2:1 im letzten WM-Test gegen Saudi-Arabien waren die Optimisten deutlich in der Mehrheit: Der "Jogi" wird es schon richten. Schließlich hatte die deutsche Fußball-Nationalmannschaft unter seiner Verantwortung bei jedem großen Turnier seit 2006 mindestens das Halbfinale erreicht. Auch Löw war offenbar dieser Ansicht: "Sorgen mache ich mir keine", sagte er nach dem letzten Test gegen Saudi-Arabien. "Wenn das Turnier losgeht, werden wir da sein."
Kein Teamgeist
Dann das Fiasko. Die drei Auftritte bei der WM in Russland gerieten zum sportlichen Offenbarungseid: Der Weltmeister von 2014 hat abgewirtschaftet. Helden von einst wie Mesut Özil, Sami Khedira oder Thomas Müller spielten wie Schatten ihrer selbst. Und auch die meisten anderen traten auf, als befänden sie sich noch im Trainingslager und nicht bei der WM.
Löw muss aufgegangen sein, dass da etwas mächtig schief lief. Bis auf die beiden Ersatztorhüter und Matthias Ginter kamen alle Spieler des Kaders zu WM-Einsätzen. Eine klare Linie war nicht zu erkennen - wohl aber der rote Faden, der sich durch alle drei Spiele zog: Die "Mannschaft", als die das Team vom DFB seit Jahren vermarktet wird, präsentierte sich in Russland nicht als solche. Sie zerfiel in einige, die lustlos dahintrabten, andere, die wenigstens etwas versuchten, aber weit unter ihren Möglichkeiten blieben und jene, die zu spät eingewechselt wurden, um noch etwas bewirken zu können.
Richtigen Zeitpunkt verpasst
Hinterher ist es immer leicht, Löw Fehler zu unterstellen. Hätte er doch Leroy Sané, Nils Petersen oder Sandro Wagner mitgenommen und andere zu Hause gelassen; hätte er doch erkannt, dass die Erdogan-Affäre um Özil und Ilkay Gündogan nicht folgenlos bleiben würde; hätte er doch mehr auf die junge, hungrige Generation der Confed-Cup-Sieger gesetzt; hätte er doch auf jene verzichtet, die nach Verletzung noch nicht bei 100 Prozent waren, …
"Ich habe die Verantwortung und stehe auch dazu", sagte Löw in der bittersten Stunde seiner großen Karriere, die nun möglicherweise jäh enden wird - und in gewisser Weise auch unwürdig. Denn Löws große Verdienste um den deutschen Fußball sind unbestritten. Sein größter Fehler könnte gewesen sein, den richtigen Zeitpunkt verpasst zu haben, Adieu zu sagen.