Joan Baez: Eine Ikone der Folkmusik wird 80
8. Januar 2021Der Plattenteller dreht sich: Flugzeug-Geräusche. Das Auf und Ab einer Sirene, Wortfetzen. Ein dumpfes Grollen in der Ferne. Dann eine Männerstimme, die etwas von "jet" und "bomb" sagt, viel mehr verstehe ich mit meinem Schulenglisch nicht. Ich bin 13 - und enttäuscht. Warum kommt da kein Lied wie dieses schwungvolle "We Shall Overcome", das ich bei einer Freundin gehört hatte? Das fand ich gut, deshalb hatte ich die Schallplatte gekauft, gebraucht, für fünf Mark auf dem Flohmarkt. Es dauert ziemlich lange, bis endlich gesungen wird. Und noch länger, bis ich zu verstehen beginne, wen ich mit dieser Joan Baez vor mir habe.
Angstattacken, Anne Frank und eine Ukulele
Joan Chandos Baez wird am 9. Januar 1941 in Staten Island, New York geboren. Sie ist die mittlere Tochter des mexikanisch-stämmigen Physikers Albert Baez und seiner Frau Joan Bridge, die schottische Vorfahren hat. Wegen der Jobs des Vaters zieht Joan mit ihren Eltern und den zwei Schwestern oft um, lebt erst an der US-amerikanischen Ostküste, dann im irakischen Bagdad (wo die Zehnjährige das Tagebuch der Anne Frank liest) und später in Kalifornien. In ihrer Kindheit und Jugend leidet sie unter Angstzuständen und Brechattacken und findet schwer Anschluss an Gleichaltrige. Die Familie ist ihr Rückzugsort.
Das ändert sich, als Joan eine Ukulele geschenkt bekommt. Aus der Außenseiterin, die in der Schule von mexikanischen Mitschülern ausgegrenzt wird, weil sie nicht Spanisch spricht und von weißen, weil ihre Haut so dunkel ist, wird ein "lunch time clown": Auf dem Schulhof spielt sie ihren Klassenkameraden Lieder vor. Und zeigt schon jetzt zivilen Ungehorsam: Sie boykottiert eine Atomkriegs-Übung, die ihr lächerlich erscheint. Musik und politisches Engagement bleiben von da an bei ihr eng verbunden. Die Aufmerksamkeit gefällt ihr: Um im Schulchor zu brillieren, feilt sie zuhause mit selbst erfundenen Übungen an ihrer Stimme, wie sie in ihrer 2009 erschienenen Autobiographie "And A Voice to Sing With" erzählt. Eine Stimme, die das TIME Magazine einmal als einen "vibrierenden, kraftvollen, untrainierten, aufwühlenden Sopran" beschreibt.
Dieser Sopran ist nun endlich auch auf meiner Platte zu hören - nach drei Minuten Klangcollage und Sprechgesang, ziemlich lang für mein ungeduldiges 13-jähriges Ich. "They say that the war is done. Where are you now, my son?", singt Joan Baez. "Sie sagen, der Krieg sei vorbei. Wo bist du jetzt, mein Sohn?" Mir dämmert, dass da wohl keine fröhlichen Folk-Songs mehr kommen. Das hier ist anders, diese Platte erzählt eine Geschichte, die ich noch nicht verstehe. Trotzdem bin ich fasziniert.
Pete Seeger und die Entdeckung der Folkmusik
Auch Joan Baez hat mit 13 ein Schlüsselerlebnis. Im Frühjahr 1954 nehmen ihre Tante und ihr Onkel sie zu einem Konzert des Folk-Sängers Pete Seeger mit. Seeger steht für Musik ohne elitären Anspruch - eine Ausnahme im schillernden Showbusiness der 1950er-Jahre. "Singt mit mir. Singt für euch. Macht eure eigene Musik", fordert er das Publikum auf. Große Stars braucht es nicht - jeder kann ein Star sein, das ist seine Botschaft.
Joan ist elektrisiert. So möchte sie Musik machen, und die Musik, die sie machen möchte, ist Folk. Sie beginnt, Folksongs zu üben. 1958 zieht die Familie nach Boston, ein Zentrum der jungen Folk-Revival-Szene. Halbherzig studiert Joan Schauspiel, jobbt nebenher - und bekommt einen ersten Auftritt im "Club 47" in Cambridge. Ihr Honorar: zehn Dollar. Zwölf Gäste kommen zu ihrem ersten Auftritt, fast alle sind Familie oder Freunde. Barfuß und im langen Kleid begleitet sie sich selbst auf der Gitarre, eine dunkelhaarige Schönheit mit glockenheller Stimme, konzentriert und natürlich - so ganz anders als die oft aufgetakelten Showbiz-Blondinen.
Bald wollen immer mehr Leute dabei sein, wenn sie so "John Riley", "Silver Dagger" oder "All My Trials" vorträgt. Im Juli 1959 dann singt sie auf dem Newport Folk Festival. Ihr kurzer Auftritt schlägt ein wie eine Bombe, Zeitungen überschlagen sich mit Superlativen, beschreiben sie als "musikalische Madonna" (lange bevor eine andere "Madonna" die Musikszene erneut aufmischt): der Startschuss für eine über sechs Jahrzehnte andauernde Karriere mit mehr als 30 vielfach ausgezeichneten Alben.
Auf dem Plattencover von "Where Are You Now, My Son?" blicken Joan Baez' große, dunkle Augen in körnigem Schwarz-Weiß an mir vorbei über ihre Schulter. Ich bin ein bisschen verliebt. In ihre Augen, ihre glockenhelle Stimme. Und in ihren Mut, sich für Schwache einzusetzen, gegen Rassentrennung und für den Frieden. Denn mit Hilfe meines gelben Langenscheidt-Schullexikons habe ich das Geheimnis der Platte schließlich entschlüsselt.
Einsatz für Bürgerrechte, gegen Rassendiskriminierung und Vietnamkrieg
23 Minuten lang, in einem Stück, erzählt "Where Are You Now, My Son?" vom Vietnamkrieg. Eine einzigartige Komposition aus Geräuschen, Gesprächen und Liedern bildet einen Klangteppich, auf dem eine Mutter den Verlust ihres Sohnes beklagt. Die Klänge sind in Hanoi entstanden, wo Joan Baez Weihnachten 1972 mit einer Delegation der Friedensbewegung festsitzt. Während um sie herum die Bomben einschlagen, singt Joan Baez mit den Menschen "Stille Nacht" - mitten in den "Christmas Bombings", den schwersten Bombenangriffen der US-Luftwaffe seit dem Zweiten Weltkrieg. "Dieses Album", schreibt Joan Baez später in ihrer Autobiographie, "ist mein Geschenk an das vietnamesische Volk und mein Dank dafür, am Leben zu sein".
Als das Album 1973 erscheint, ist Joan Baez 31 und ein Weltstar: Nach dem Konzert in Newport 1959 hatte ein kometenhafter Aufstieg fast ohne Rückschläge begonnen. 1969 hatte sie auf der Bühne des legendären Woodstock-Festivals gestanden, zuvor den bis dahin unbekannten Folk-Poeten Bob Dylan und seine Lieder berühmt gemacht (auch die Ballade "Forever Young" stammt von Dylan) . Über Jahrzehnte wurden ihre Lieder und Alben mit zahlreichen Goldenen Schallplatten geehrt.
Untrennbar verbunden mit ihrer Musik ist bis heute ihr politisches Engagement: 1963 marschiert sie Seite an Seite mit Martin Luther King gegen Rassentrennung, wird bei Protestaktionen gegen den Vietnamkrieg verhaftet. Und 1966, mitten im Kalten Krieg, durchkreuzt sie die Propaganda-Pläne der DDR-Regierung, die sie zu einem Auftritt in die DDR eingeladen hat: Sie bringt den regimekritischen Liedermacher Wolf Biermann, dem öffentliche Auftritte verboten sind, zu ihrem Konzert mit. Weil auch Biermann darauf zu sehen ist, wird das für das DDR-Fernsehen aufgenommene Konzert nie gesendet.
Ein Sopran ist zum Alt geworden: Farewell, Joan Baez!
Erstaunlich ist an ihrer Karriere eigentlich nur eines: dass sie erst 2017 in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen worden ist. Juli 2019. Vor genau 40 Jahren habe ich "Where Are You Now, My Son?" auf dem Flohmarkt gekauft. Auf der spärlich erleuchteten Bühne singt Joan Baez "Farewell Angelina", es ist ihre Abschiedstournee. Mit mir sind rund 3500 Menschen auf die kleine Insel Grafenwerth in der Nähe von Bonn gekommen, um die große Dame der Folkmusik noch einmal live zu erleben. Aus dem glockenhellen Sopran ist ein sonorer Alt geworden. 40 Jahre ist es her, dass ich mit ihren Liedern Englisch gelernt habe, dass ich angefangen habe, mich für Politik und Geschichte zu interessieren. Ihr Vorbild hat mich zu einem politisch denkenden Menschen gemacht. Danke dafür, Joan Baez. Und herzlichen Glückwunsch zum 80. Geburtstag.
Zum Weiterlesen:
Jens Rosteck: Joan Baez. Porträt einer Unbeugsamen, Osburg Verlag 2017
Joan Baez: And a Voice to Sing With. A Memoir, Simon & Schuster 2009 (nur auf Englisch)
Elizabeth Thomson: The Last Leaf, Palazzo Ed. 2020