Pressestimmen zum EU-Gipfel
28. Juni 2014"Britain nears EU exit", Großbritanniens EU-Austritt wird wahrscheinlicher - so wie die Londoner "Times" sehen es heute die meisten britischen Zeitungen. Ob daran allerdings die Europäische Union schuld ist oder doch eher Premierminister David Cameron, darüber gehen die Meinungen auseinander.
Von einer "Demütigung" Camerons spricht das britische Tabloid "Daily Mirror": "Cameron wollte sich als einsamer Cowboy in Brüssel aufspielen und ging mit Glanz und Gloria unter in diesem grundlegenden Kampf um die EU. (…) Seine Erniedrigung war eine erneute Erinnerung an seine schreckliche Urteilsfähigkeit, die Cameron zuhause und im Ausland beschädigt hat."
"Gewaltiges politisches Fehlkalkül"
Cameron hatte sich explizit gegen Jean-Claude Juncker als EU-Kommissionspräsident ausgesprochen. Auch der linksliberale britische "Independent" hält den Luxemburger für den völlig falschen Mann. Dessen Kandidatur habe "kaum Begeisterung geweckt, auch nicht bei höhergestellten Eurokraten. Er ist das lebende Symbol all dessen, was in der EU heute überholt und nicht mehr aktuell ist." Dass der Kritisierte nun das höchste EU-Amt bekleiden wird, das wirft die Zeitung aber auch dem britischen Premierminister vor: "Cameron hat in einem gewaltigen politischen Fehlkalkül die Gleichgültigkeit und Abneigung in fast einhellige Unterstützung verwandelt. (...) Wenn hinter diesem Reinfall irgendeine Strategie stand, dann war sie kaum zu erkennen."
Cameron habe die britische Position gestärkt mit seiner festen Meinung, schreibt dagegen die "Times": "Die Ernennung von Jean-Claude Juncker ist schlecht für die EU. David Cameron hatte Recht damit, sich bis zum bitteren Ende dagegen zu stellen."
Patriotisch-camerontreu bleibt auch das Boulevard-Blatt "The Sun": "Cam: Wir sind im Krieg mit der EU."
So sehen es die deutschen Zeitungen
Cameron hat sich verpokert, das glauben auch die deutschen Medien wie die "Hannoversche Allgemeine": "Mag sein, dass sein No zu Juncker und der von ihm verkörperten Idee von Europa bei den englischen EU-Gegnern prima ankommt. Aber mit seinem sturen Dagegensein macht sich Cameron zur Geisel seiner innenpolitischen Kritiker, ohne damit auch nur eines der vielen Probleme seines Landes zu lösen."
Aber: "Ironischerweise hat Cameron mit seiner Kritik vollkommen recht", schreibt die "Freie Presse" in Chemnitz: "Juncker, einst 'Mr. Euro' genannt, hat seine besten Zeiten hinter sich, er wirkt ausgebrannt. Der 59-Jährige ist eher Teil des EU-Inventars und nicht als Entrümpler und Reformer geeignet. Und jeder in Europa weiß: Der Luxemburger drängte nur deshalb in das Amt des Kommissionspräsidenten, weil er in seiner Heimat über eine Geheimdienstaffäre gestürzt war, die ihn seine innenpolitische Karriere kostete."
Wenn jetzt der "Brexit" droht, also der mit einem Kunstwort aus "Britain" und "Exit" beschriebene EU-Ausstieg des Königreichs, dann ist für die "Rheinische Post" aus Düsseldorf die entscheidende Frage, wie Juncker damit umgehen wird: "Europa wird in den nächsten fünf Jahren nur stark sein können, wenn es in mehreren Geschwindigkeiten vorangeht. (...) London wird versuchen, seine Mitgliedschaft auf 'light' zu setzen oder gar ganz auszutreten. Letzteres wäre schlecht für die EU wie für die Briten. Junckers große Aufgabe ist es daher, diesen Schritt zu verhindern - aber ohne die nötigen Integrationsschritte zu unterlassen."
Juncker gewinnt, Cameron verliert - und das EU-Parlament?
Mit gewissen "Bauchschmerzen" haben sich die Staats- und Regierungschefs auf Juncker geeinigt, Cameron hat sich blamiert - so sieht es die "Volksstimme" aus Magdeburg. "Als Punktsieger darf sich hingegen das EU-Parlament fühlen. Es ist gekommen, wie es die Parteien im Wahlkampf des Frühjahrs versprochen haben: Der Wahlsieger bekommt den Job."
Das sieht nun das sozialistische "neue deutschland" in Berlin ganz anders: "Die Machtbesitzenden sind sich nach wochenlangem Gezerre einig geworden, aber - und das ist der eigentliche Grund zur Sorge - nur in ihrem Irrtum, als Sieger daraus hervorgegangen zu sein. Denn das Parlament hat keinesfalls einen Sieg der Demokratie errungen, sondern einen, den kein Mensch braucht. Weder steht Juncker für einen Neuanfang, noch lassen die Mehrheitsverhältnisse im neuen EU-Parlament auf progressive Impulse hoffen. (...) Für die Zukunft der EU verheißt dieser Auftakt einer neuen Legislaturperiode nichts Gutes. Die Menschen, die diese EU schon jetzt satt haben, können sich bestätigt fühlen."
Juncker? Es gibt Wichtigeres
"Die an und für sich gar nicht so wichtige Kommissions-Personalie konnte überhaupt nur wichtig werden, weil sie aufgeladen wurde mit anderen politischen Zielen - wie dem Machtkampf mit den Briten", kommentiert die "Westdeutsche Allgemeine Zeitung" in Essen. "Weit wichtiger als die Entscheidung für Juncker ist die europäische Beitritts-Perspektive für die Ukraine, Georgien und Moldau. Sie ist eine krachende Niederlage für Putin, eine von historischer Dimension. Das westliche Demokratie-, Toleranz- und Wohlstandsmodell ist einem nationalistischen, fortschrittsfeindlichen, neo-imperialen Staat bei Weitem überlegen. Die Ex-Sowjet-Satelliten ziehen den goldenen Westen dem rostigen Osten vor."