Jung, progressiv, rumänisch - für Deutschland
21. September 2021An einigen Türen klingelt sie vergeblich. Dann, in der dritten Etage des schlichten Altbauhauses, öffnet ein freundlicher Herr mittleren Alters. "Guten Tag", sagt die junge Frau und stellt sich vor: "Ich heiße Ana-Maria Trăsnea und bin Ihre SPD-Bundestagskandidatin im Bezirk. Ich bin hier, damit Sie mich nicht nur auf Plakaten sehen. Wenn Sie Interesse haben, gebe ich Ihnen gern Informationsmaterial." Der Mann lächelt. "Ich habe schon gewählt", sagt er. Nach einer Kunstpause fügt er hinzu: "Und zwar Sie."
Ana-Maria Trăsnea ist sichtlich erfreut und bedankt sich. Der Mann sagt: "Geben Sie mir trotzdem gern Ihr Material." Trăsnea reicht ihm eine Mappe und zeigt auf eine Adresse mit Telefonnummer: "Wenn Sie ein kommunales Anliegen haben, können Sie mich jederzeit kontaktieren."
Berlin, Bezirk Treptow-Köpenick im Südosten der deutschen Hauptstadt, kurz vor der Bundestagswahl. Die SPD-Direktkandidatin Ana-Maria Trăsnea geht in einer Seitenstraße nahe der S-Bahnstation Baumschulenweg von Haus zu Haus, klingelt an Wohnungstüren und verteilt Wahlkampfmaterial. Es ist früher Abend, ihre Schwester und ein junger SPD-Aktivist begleiten sie. Manche Anwohner nehmen die Wahlkampfwerbung eilig entgegen, andere winken dankend ab, einige sagen, dass sie per Briefwahl bereits abgestimmt hätten. Alle sind freundlich. "Es kommt auch mal vor, dass Leute ihren Ärger rauslassen", sagt Ana-Maria Trăsnea. "So oder so, mir ist wichtig, Kontakt zu den Leuten im Bezirk zu halten."
"Ein Land mit Chancen für alle"
Ana-Maria Trăsnea gehört zu den bemerkenswertesten Bundestagskandidatinnen in der deutschen Hauptstadt. Sie ist gerade einmal 27 Jahre alt, aber schon seit fast einem Jahrzehnt Kommunalpolitikerin. Sie stammt aus Rumänien und kam als Jugendliche nach Berlin, ihre Mutter arbeitete hier in einem Restaurant. Anfangs sprach sie kaum ein Wort Deutsch, aber schon nach einem Jahr war sie unter den Klassenbesten am Gymnasium. Immer wieder erlebte sie an ihrer Schule im Stadtteil Köpenick rassistisches Mobbing. Und doch sagt die studierte Kulturwissenschaftlerin heute: "Ich liebe Deutschland. Hier hat jeder und jede eine Chance, egal, mit welcher Herkunft und welchem sozialen Hintergrund."
Ana-Maria Trăsneas Geschichte ist die eines Einwandererkindes aus einfachen Verhältnissen, das trotz aller Schwierigkeiten in Deutschland eine Heimat findet - und diese nun als Erwachsene politisch mitgestaltet. Es ist keine gewöhnliche Geschichte, aber sie ist auch nicht mehr vollkommen exotisch. Deshalb ist es auch eine Geschichte über ein neues, offeneres Deutschland.
Kind der "Euro-Generation: Allein zuhause"
Ana-Maria Trăsnea wurde 1994 in Piatra Neamț geboren, einer unspektakulären Kreisstadt im Nordosten Rumäniens, 80.000 Einwohner, viele Plattenbauten aus der Ceaușescu-Zeit. Die Stadt liegt in einer der ärmsten EU-Regionen, die Wirtschaft stagniert seit Jahrzehnten, die Leute wandern ab.
Ana-Maria Trăsneas Mutter hat Piatra Neamț schon 2002 verlassen. Sie ist damals geschieden und findet, auf der Suche nach einer besseren Lebensperspektive für sich und ihre beiden Töchter, Arbeit in einem Restaurant in Berlin. Eine Tante kümmert sich derweil um Ana-Maria und ihre jüngere Schwester. Die beiden Mädchen gehören zu jenen hunderttausenden rumänischen Kindern und Jugendlichen, die im Land als "Euro-Generation: Allein zuhause" bezeichnet werden, weil die Eltern im westeuropäischen Ausland arbeiten. Fünf Jahre lang leben Ana-Maria und ihre Schwester so, erst im Sommer 2007 können sie zur Mutter nach Berlin ziehen.
Jacke zertrampelt, mit Steinchen beworfen
Sie wohnen in Treptow-Köpenick. Ausgerechnet. Einige Gegenden des Bezirks sind damals Hochburgen von Neonazis. Am Gymnasium, auf das die Siebtklässlerin Ana-Maria geht, gibt es zwar keine offen rechtsextremen Schüler, aber willkommen ist das rumänische Mädchen unter den Mitschülern nicht. "Der Anfang war, nun ja, sehr intensiv", sagt Ana-Maria Trăsnea und lächelt zu dem Adjektiv.
Sie erzählt davon, wie es war, kaum Deutsch zu sprechen, von ihrem unbändigen Ehrgeiz, durch den sie schnell eine der besten Schülerinnen in der Klasse wurde, dafür aber auch als Streberin und Außenseiterin galt, davon, dass sie die ganze Schulzeit über keine echten Freunde fand. Sie erzählt auch von Ausgrenzung und Rassismus: "Ich wurde gefragt, ob meine Eltern Sozialschmarotzer seien. Meine Jacke wurde zertrampelt, auf dem Schulhof haben sie mich mit Steinchen beworfen. Einmal kam ich vom Tanzunterricht und wurde von sechs Jungs bedroht, rechte Typen. Ich flüchtete in ein Café, aus dem mich dann mein Stiefvater abholte."
Parteieintritt während der Abiturprüfungen
Mit der Zeit habe sie sich Respekt verschafft, indem sie Rassismus und Diskriminierung in der Schule offen thematisiert habe, sagt Ana-Maria Trăsnea, "auch wenn ich in dem Moment vielleicht als Petze galt". Gleichzeitig hätten ihre Erfahrungen sie auch sensibilisiert für Werte wie Gleichheit, Toleranz, Solidarität und Gerechtigkeit und sie dazu gebracht, ehrenamtlich aktiv zu werden. Sie wurde Schulsprecherin, machte mit im Netzwerk "Schule gegen Rassismus - Schule mit Courage", organisierte europäische Jugendaustausche.
Der Weg in die Politik war dann nicht mehr weit und, wie Trăsnea sagt, ihr ausdrücklicher, eigener Wunsch. Sie trat 2013, mitten in den Abiturprüfungen, in die SPD ein, jene Partei, von der sie meint, sie kämpfe in Deutschland "am meisten dafür, dass du deine Chance auf ein Leben in Würde verwirklichst, egal, woher und aus welchen Verhältnissen du kommst".
Blitzkarriere
Nach der Schule studierte sie Kulturwissenschaften an der Viadrina in Frankfurt/Oder, machte aber weiter Jugendarbeit. Sie wurde 2016, mit 22 Jahren, jüngste Abgeordnete der Bezirksverordnetenversammlung in Treptow-Köpenick und arbeitete später im Leitungsstab der Familienministerin Franziska Giffey. Derzeit ist sie Referentin in der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie. Nun die Kandidatur für den Bundestag. Es sieht nach einer Blitzkarriere aus und so, als ob sie auf der politischen Leiter noch sehr hoch steigen werde.
Ana-Maria Trăsnea nimmt das Wort Karriere im Gespräch nicht ein einziges Mal in den Mund. Sie spricht viel von ihrem Ehrgeiz, politisch etwas bewegen und mitgestalten zu wollen, Demokratieförderung und soziale Gleichheit sind ihr wichtig. Immer scheinen dabei ihre eigenen, sehr prägenden und einschneidenden Lebenserfahrungen durch. Anders als die meisten Jungpolitiker wirkt sie bodenständig, erwachsen und sehr authentisch.
"Zu viele Leute meckern zu viel"
Sie klagt nicht über Deutschland. Auch nicht darüber, wie schwer sie es hatte. Sie sagt, es gebe viel zu verbessern. Hartz-4 zum Beispiel, das gehöre abgeschafft. Doch im Grunde schwärmt sie von ihrer zweiten Heimat, deren Staatsbürgerin sie längst ist. Sie schwärmt davon, wie gut sie sich fühlte, als ein Lehrer in der Schule sie zum ersten Mal aufforderte, ihre Meinung zu sagen, anders als in Rumänien, wo sie nur Lexikon-Wissen abspulen sollte. Sie schwärmt davon, wie viel Hilfsbereitschaft und ehrenamtliches Engagement es in Deutschland gebe. Und - was stört sie an Deutschland? Sie muss eine Weile überlegen. Dann sagt sie lachend: "Zu viele Leute meckern zu viel. Sie sehen einfach nicht die Möglichkeiten, die sie im Alltag haben, etwas zu ändern."
Ist Deutschland nun ihr Land, ihre neue Heimat? "Ja", sagt sie, ohne zu zögern. "Vor einigen Jahren kam ich von einer mehrwöchigen Reise aus Rumänien zurück. Ich dachte: Hier sind die Grundstrukturen verlässlich. Hier kann ich etwas werden ohne Beziehungen. Hier muss ich kein Schmiergeld zahlen auf dem Bürgeramt oder wenn meine Uroma ins Krankenhaus kommt. Hinter der Grenze, auf deutschem Boden, habe ich aufgeatmet. Es fühlte sich nach Zuhause an."
Nicht überangepasst
Dennoch ist Ana-Maria Trăsnea nicht überangepasst oder verbirgt ihre Wurzeln. Auf ihrer Wahlkampf-Webseite steht im zweiten Satz ihrer Präsentation, dass sie in Rumänien geboren sei. Sie spricht akzent- und fehlerfrei Deutsch. Aber wenn sie sich mit ihrem Namen vorstellt, benutzt sie für ihn nur die korrekte rumänische Aussprache.
Auch an diesem Tag bei ihrer Abend-Wahlkampftour am Baumschulenweg. Sie ist noch nicht lange unterwegs, da entdeckt sie an einer Tür ein Schild mit einem rumänischen Namen und klingelt. Zwei Eheleute, beide Mittvierziger, öffnen. Sie sind erstaunt, als sich eine Bundestagskandidatin vorstellt, noch dazu auf Rumänisch. Sie bitten Ana-Maria Trăsnea sogleich in die Wohnstube und bringen frischen Kaffee.
Sie klärt auf
Der Mann arbeitet auf dem Bau, die Frau als Reinigungskraft. Die beiden sind seit vielen Jahren in Berlin und froh, dass sie hier ein Auskommen haben. In Rumänien sei es sehr schwer, sagen sie. Die Eheleute wirken sehr bescheiden und dankbar. Weil sie keine deutschen Staatsbürger sind, können sie bei Bundestags- Landtagswahlen nicht abstimmen. Aber Ana-Maria Trăsnea erzählt ihnen, dass sie ein kommunales Wahlrecht besitzen. Und dass sie überhaupt viele Möglichkeiten und Rechte hätten, auch als Ausländer.
Sie ist nun wieder ganz in ihrem Element, in ihrer eigenen Geschichte.
"Wenn Sie einmal Probleme haben, melden Sie sich!", sagt sie am Ende herzlich. Und übergibt den Eheleuten ihre Mappe.