Kirche verliert europaweit Gläubige
22. Februar 2021Hilfe von oben - die hätten sich die IT-Spezialisten des Kölner Amtsgerichts wohl gewünscht, als sie am Freitag zusätzliche Termine für den Kirchenaustritt freigeschaltet hatten und prompt der Server zusammenbrach. Nichts ging mehr, alles ausgebucht. 1000 Austrittstermine vergibt das Gericht derzeit pro Monat, die Nachfrage im Bistum war zuletzt deutlich höher. Ab März will das Amtsgericht 500 Termine mehr pro Monat anbieten.
Zwar muss niemand bei der Terminvergabe angeben, aus welcher Kirche er oder sie austreten will - und schon gar nicht müssen die Gründe dafür angegeben werden. Trotzdem liegt die Annahme nahe, dass der sprunghafte regionale Anstieg in Köln mit dem Skandal um Kardinal Rainer Maria Woelki zusammenhängt. Dem Chef des Kölner Erzbistums wird vorgeworfen, Vorfälle von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche vertuschen zu wollen. Konkreter Anlass ist ein Gutachten, das der Geistliche zurückhält.
Kirchenaustritte in Deutschland auf Rekordhoch
So auffällig der Anstieg in Köln derzeit auch ist - der massenhafte Kirchenaustritt im Rheinland setzt nur einen Trend fort, der schon in den vergangenen Jahren nicht zu leugnen war, der ganz Deutschland betraf und auch beide großen christlichen Konfessionen: 2019 erklärten jeweils mehr als eine viertel Million Christen ihren Austritt aus der katholischen oder evangelischen Kirche. Es war bislang das Rekordjahr. Insgesamt sind nur noch rund die Hälfte der in Deutschland lebenden Menschen Mitglied einer der beiden großen christlichen Konfessionen.
Dass sich die Abkehr der Gemeindemitglieder so genau beziffern lässt, ist eine deutsche Besonderheit: weil man in Deutschland einen Austritt offiziell erklären kann und dies zudem auch nicht bei der Kirche macht, sondern bei einer staatlichen Stelle.
Denn zumindest die beiden großen christlichen Konfessionen sind Körperschaften öffentlichen Rechts und der Staat treibt für sie eine Kirchensteuer ein, immerhin in Höhe von acht beziehungsweise in manchen Bundesländern sogar neun Prozent der Einkommenssteuer. Bei Besserverdienenden kommen so pro Jahr schnell mehrere Tausend Euro Kirchensteuer zusammen. Eine Abgabe, die bei Austritt wegfällt und diesen in Deutschland für viele besonders "attraktiv" erscheinen lassen mag.
Italiens Basiliken immer leerer
Auch in anderen europäischen Ländern schwindet die Bindung der Menschen an "ihre" Kirche - besonders an die katholische. Messbar ist das an verschiedenen Faktoren. Italien etwa, das tiefkatholische Land mit dem Vatikan im Herzen seiner Hauptstadt, erhebt zwar keine Kirchensteuer. Sehr wohl aber eine "Mandatssteuer", die jeder zahlt, und bei welcher der Steuerzahler selbst bestimmen kann, wem sie zugutekommen soll: einer Kirche zum Beispiel oder einer anderen sozialen Einrichtung. Auffällig: Die Zahl der Steuerzahler und -zahlerinnen, die die katholische Kirche begünstigen, ist rückgängig. Sie lag zuletzt bei rund 30 Prozent.
Der Turiner Religionssoziologe Francesco Garelli hat die Abkehr der Italiener von der Kirche 2020 in einer Studie untersucht. Sie trägt den aussagekräftigen Titel: "Volk mit wenig Glauben". Eines der Ergebnisse: Ein Drittel der Menschen in Italien bezeichnen sich in Italien als Atheisten, nur noch ein Fünftel besucht regelmäßig die Messe. Zahlen, die dem Bischof von Rom, vulgo dem Papst, nicht gefallen dürften.
Spanien: Kirchenaustritt nicht möglich
Auch Spanien ist stark katholisch geprägt, und auch hier muss man eher weiche Faktoren hinzuziehen, wenn man beziffern will, wie viele Schäfchen sich inzwischen von der Herde entfernt haben. Wer "Mitglied" ist und wer nicht, ist schwer zu definieren. Denn einen "Austritt" aus der Kirche ist in Spanien gar nicht vorgesehen. Weder Kirche noch Staat bieten dem Bürger einen Verwaltungsakt an, der dem Austritt in Deutschland entspricht.
Immer mal wieder kommt es dazu, dass Gemeindemitglieder darum bitten, den eigenen Namen aus Datenschutzgründen aus dem Kirchenregister zu tilgen, das könnte man noch am ehesten als "Austritt" werten. Doch nicht jede Gemeinde entspricht dieser Bitte, auch deshalb ist hieran nur schwer ablesbar, wie hoch die Akzeptanz der Kirche tatsächlich ist.
Eine Kirchensteuer muss man in Spanien ohnehin nicht verpflichtend zahlen. Ähnlich dem italienischen Modell gibt es eine Steuer von 0,7 Prozent des Jahreseinkommens, die man einer Kirche der Wahl oder einem anderen wohltätigen Zweck zugutekommen lassen kann.
Identitätskrise in Polen
Sehr katholisch zu geht es auch in Polen. Weit über 90 Prozent der Menschen gelten hier als römisch-katholisch. Gottesdienste sind hier auch in der Regel, zumindest bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie, deutlich besser besucht als in vielen Ländern Westeuropas. Und doch kommt der Kirche nicht mehr die Rolle zu, die sie in sozialistischen Zeiten hatte: Damals war die Glaubensausübung für viele Polinnen und Polen gleichsam Ausdruck der Opposition gegen das Regime. Experten beobachten heute eine eher schleichende Säkularisierung.
Da es in Polen, wie in Spanien, keinen juristischen Akt des Kirchenaustritts gibt - Anfang der 2010er-Jahre waren mehrere Gerichte mit genau dieser Frage beschäftigt - und es auch keine Kirchensteuer gibt, deren Zahlung man verweigern könnte, ist die schwindende Bedeutung des Glaubens schwer in absoluten Zahlen darstellbar. Auf jeden Fall droht ein "Nachwuchsproblem":
Eine Studie des Warschauer Meinungsforschungsinstituts CBOS vom Sommer 2019 unter polnischen Schülerinnen und Schülern ergab, dass sich nur noch 55 Prozent der Befragten als gläubig betrachten. Mitte der 1990er-Jahre hatten das noch drei Viertel der Jugendlichen von sich behauptet.
Die Gründe sind vielfältig: eine moderner werdende Gesellschaft, die traditionelle Werte infrage stellt, ablesbar zuletzt an den Protesten gegen ein neues Abtreibungsgesetz. Oder auch der Verlust der polnischen Identifikationsfigur Johannes Paul II. im Jahr 2005. Nicht zuletzt herrscht in Polen großer Unmut über nicht aufgeklärte Missbrauchsfälle. Außerdem stoßen sich viele Jüngere an dem stark ausgeprägten religiös-nationalen Anspruch, der in dem Land vorherrscht und den auch die Regierungspartei PiS ("Recht und Gerechtigkeit") vorlebt.
Eine Abwendung von der Kirche wird von Teilen der Gesellschaft gleichgesetzt mit der Abwendung vom Polentum an sich. "Was genau die Motivation für eine Abwendung von der Kirche ist, können wir nur schwer untersuchen", so Studienleiter Antoni Głowacki vom CBOS anlässlich der Veröffentlichung. "Was wir aber sagen können, ist: Wir sehen einen sich fortsetzenden Trend."
Irischer Bischof brach das Zölibat
Bleibt der Blick in die westlichste europäische Hochburg des Katholizismus: die Republik Irland. Die Kirche hat hier formal noch eine starke Stellung, laut Zensus 2016 bezeichneten sich 78 Prozent der Iren als katholisch. 2010 waren es noch 88, und 1971 sogar 93 Prozent. Der negative Trend ist also auch hier deutlich.
Auch auf der Grünen Insel hat sich die Kirche in den vergangenen Jahren in den Augen vieler unglaubwürdig gemacht - nicht nur durch Skandale wie um den Bischof von Galway, Eamon Casey. Der musste 1992 zugeben, Vater eines Sohnes zu sein.
In Irland haben zudem ebenfalls Missbrauchsfälle Katholiken auf Distanz zu ihrer Kirche gebracht. Für Empörung sorgte beispielsweise der systematische Kindesmissbrauch im Bistum Dublin, dokumentiert im "Murphy-Bericht" aus dem Jahr 2009. Und erst im Januar 2021 machte eine Studie publik, dass Mitte des 20. Jahrhunderts die Kindersterblichkeit in katholischen Mutter-Kind-Heimen unverhältnismäßig hoch war. Viele Mädchen und Jungen starben dort laut Bericht an Atemwegserkrankungen oder Magen-Darm-Krankheiten, auf dem Gelände eines Heims in der Ortschaft Tuam wurde sogar ein Massengrab mit Babyleichen gefunden, verscharrt schätzungsweise zwischen 1920 und den 1960er-Jahren.
Viele Iren verspüren den Wunsch, die katholische Kirche auch formal-juristisch zu verlassen - der große Erfolg der inzwischen offline gegangenen Internetseite "countmeout.ie" lässt diese Annahme zu. Dort gab es unter anderem ein PDF-Formular zum Herunterladen, mit dem Katholiken ihren Austritt erklären konnten.
Kanonisches Recht kennt keinen Austritt
Der Austritt in Irland - und auch anderen Ländern, in denen der Staat keine Möglichkeit zum Austritt bietet - wurde durch die Kirche selbst 2009 de facto unmöglich gemacht. Damals strich die katholische Kirche sämtliche Erwähnung der Möglichkeit eines Austritts aus dem kanonischen Recht.
In einem sind sich allerdings Theologen und Kirchenrechtler länder- und auch konfessionsübergreifend einig: Die Taufe kann nicht rückgängig gemacht werden, auch nicht in Ländern wie Deutschland, wo juristisch gesehen ein Austritt möglich ist. Ein getaufter Christ bleibt aus kirchlicher Sicht immer ein Christ.