Keine Rückkehr von Jerome Boateng zum FC Bayern
7. Oktober 2023Als Jerome Boateng am 22. Mai 2021 am letzten Spieltag der Saison beim 5:2 gegen den FC Augsburg nach einer guten Stunde ausgewechselt wurde, weinte er bittere Tränen. Sein damaliger Trainer Hansi Flick umarmte ihn an der Seitenlinie. Nach zehn Jahren, 363 Pflichtspielen, zwei Champions-League-Siegen, neun deutschen Meisterschaften, fünf DFB-Pokal-Siegen und zwei Klub-Weltmeisterschaften war das Kapitel FC Bayern für Boateng beendet - so zumindest schien es. Doch knappe zweieinhalb Jahre später trainierte Boateng plötzlich wieder mit seiner alten Liebe. Was im ersten Moment nach einer romantischen Rückkehr aussah, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als panischer Versuch des Rekordmeisters, die Fehlplanung des Kaders im Abwehrbereich in letzter Sekunde zu korrigieren. Dass dem 35-jährigen demnächst ein erneuter Prozess wegen Körperverletzung bevorsteht, erhöhte die Brisanz einer möglichen Rückkehr zusätzlich.
Nachdem sich auch die Fans gegen Boateng positioniert hatten, entschied sich der FC Bayern letztlich jedoch gegen einen Vertrag für den Verteidiger. "In der Betrachtung aller Aspekte hat der FC Bayern jetzt entschieden, auf eine Verpflichtung von Jerome Boateng zu verzichten", teilte der Verein mit. Die personelle Situation in der Innenverteidigung habe sich inzwischen entspannt.
Boateng sportlich zuletzt wenig überzeugend
Zu seinen Hochzeiten war Boateng ein Spieler, der perfekt in das Anforderungsprofil von Bayern-Trainer Thomas Tuchel passen würde. Seine größten Stärken waren seine Schnelligkeit und seine zielgenauen, langen Pässe. Beides sind Fähigkeiten, die den Münchnern diese Saison bisher abhanden gekommen sind. Doch wer erwartete, dass Boateng nun im Alleingang die Probleme der FC-Bayern-Abwehr hätte lösen können, wäre wahrscheinlich enttäuscht worden. Bereits in Boatengs letzter Saison in München 2020/21 kassierten die Bayern 44 Gegentore - Negativrekord in diesem Jahrhundert.
Auch in den folgenden zwei Jahren konnte Boateng sportlich nicht überzeugen. Nach seinem Transfer zu Olympique Lyon war er zunächst noch fester Bestandteil der Startelf. Im zweiten Halbjahr kam er jedoch nur noch auf Kurzeinsätze, sein damaliger Trainer Peter Bosz gab anderen Spielern den Vorzug. Zudem berichtete die französische Zeitung "L'Equipe" von mehreren verbalen und sogar handgreiflichen Auseinandersetzungen Boatengs mit Teamkollegen.
Auch nach der Entlassung von Bosz änderte sich an seiner Situation wenig. Unter Nachfolger Laurent Blanc kam er ebenfalls kaum zum Einsatz und verließ Lyon Mitte Mai 2023 nach zwei Jahren. Seitdem ist er vereinslos. Boateng dürfe sich auch weiterhin beim FC Bayern fit halten, wenn er dies wünsche, ließen die Münchener wissen.
Tuchel und Bosse uneins
Das Thema eines zu dünnen Bayern-Kaders ist keinesfalls neu beim Rekordmeister. Bereits im Sommer hatte Trainer Thomas Tuchel große Bedenken geäußert, ob das Aufgebot beim FC Bayern genügt, um allerhöchsten Ansprüchen gerecht zu werden. Immer wieder hatte Tuchel darauf hingewiesen, dass es keine Verletzungen geben dürfe und es "sehr schwierig" werden könne mit einer solch dünnen Personaldecke. Vor dem Bundesligaspiel gegen Borussia Mönchengladbach im September bekräftigte Tuchel seine Kritik an der Kaderbreite und positionierte sich damit gegen FC-Bayern-Boss Jan-Christian Dreesen. Dieser hatte zuvor bei Sky erklärt, der Kader sei "erstklassig besetzt" und Tuchel müsse nun "ein bisschen kreativer sein", das sei "sein Job".
Doch auch der Kreativität sind Grenzen gesetzt. Beim DFB-Pokalspiel des FC Bayern in Münster war für alle Zuschauer sichtbar, dass die Baustellen in der Abwehr in der sommerlichen Transferperiode keinesfalls so aufgearbeitet worden waren, wie es von Nöten gewesen wäre.
Mit Matthijs de Ligt, Dayot Umapecano und Neuzugang Min-Jae Kim fielen gleich drei gelernte Innenverteidiger verletzungsbedingt aus. Verteidiger Josip Stanisic wurde zur Verwunderung vieler vor der Saison nach Leverkusen verliehen und Talent Tarek Buchmann scheint der Aufgabe FC Bayern wohl noch nicht gewachsen. Und als Tuchel Mittelfeldspieler Leon Goretzka zusammen mit Rechtsverteidiger Noussair Mazraoui als zentrales Duo aufstellen musste, dürfte er sich in seiner Einschätzung des zu schmalen Kaders bestätigt gefühlt haben.
Anklage wegen Körperverletzung und Beleidigung
Dass ausgerechnet Jerome Boateng die Probleme lösen sollte, sorgte bei vielen Beobachtern für Verwunderung. "Den Namen Boateng in dem Zusammenhang zu lesen, war sehr überraschend für mich", sagte Rekordnationalspieler Lothar Matthäus beim Pay-TV-Sender Sky. "Bayern gesteht sich damit einen Fehler ein: Man hat die Hausaufgaben in der Verteidigung nicht so erledigt, wie man es hätte tun sollen, sonst hätte man einen vierten gelernten Innenverteidiger gehabt."
Auch der ehemalige FC Bayern-Verteidiger Markus Babbel kritisierte die Klubführung deutlich: "Sie haben sich zu dünn aufgestellt", sagte Babbel im Bayrischen Rundfunk. "Sie hatten genügend Zeit, einen optimalen Kader zusammenzustellen. Das ist enttäuschend und nicht Bayern-like."
Die Kritik an einer möglichen Verpflichtung Boatengs ging jedoch weit über die Diskussion seiner sportlichen Qualitäten hinaus. Es ging nicht nur um den Fußballspieler, sondern auch um den Privatmann. Und beim privaten Jerome Boateng gab es in jüngerer Vergangenheit eben auch ein Gerichtsverfahren wegen des Vorwurfs gewalttätiger Angriffe auf seine ehemalige Freundin.
Das Bayerische Oberste Landesgericht hob zwar gerade eine Verurteilung des Profis wegen eklatanter Rechtsfehler in vollem Umfang auf. Der Prozess wird jedoch neu aufgerollt und dann bereits zum dritten Mal verhandelt. In den ersten beiden Verfahren sahen es die Gerichte als erwiesen an, dass Boateng während eines Karibikurlaubs vor mehr als drei Jahren seine damalige Partnerin verletzt und beleidigt hatte.
Tuchel: "Türen stehen offen"
Für Bayern-Sportdirektor Christoph Freund war dies jedoch zunächst kein Grund, von einer Verpflichtung des 35-jährigen abzusehen. "Jeder kann seine Meinung haben", kommentierte Freund noch vor Tagen die kritische Nachfrage eines Journalisten. "Unser Zugang ist, was das Beste für den FC Bayern sportlich ist." Boatengs Gerichtsverfahren sei "eine private Geschichte" und darum "kein großes Thema für uns". Zudem gelte "auch immer die Unschuldsvermutung".
Ähnlich äußerte sich Trainer Tuchel. Es müsse einfach drin sein, "einen verdienten Spieler" mittrainieren zu lassen. "Da stehen die Türen immer auf."
Das sahen nicht alle so. Der Klub aus München wurde zum Teil scharf für seine Rechtfertigungslinie kritisiert. Der "Weiße Ring", ein gemeinnütziger Verein zur Unterstützung von Kriminalitätsopfern und zur Verhütung von Straftaten, schrieb auf Instagram: "Nein, lieber FC Bayern, häusliche Gewalt ist keine private Geschichte. Vielmehr ist es ein massives gesellschaftliches Problem."
Der Artikel wurde nach der Entscheidung des FC Bayern gegen eine Verpflichtung Boatengs aktualisiert.