Keine Schonzeit für den neuen WTO-Chef
2. September 2013Eine neue Wohnung und einen Stadtplan braucht er vermutlich nicht, der brasilianische Diplomat Roberto Azevêdo, wenn er am Montag (02.09.2013) das Chefbüro der Welthandelsorganisation WTO in Genf bezieht - schließlich hat er über fünf Jahre Brasilien bei der WTO vertreten. Aber etwas mehr Fortune als sein Vorgänger, der Franzose Pascal Lamy sie hatte, wäre ihm schon zu gönnen. Denn WTO-Chefs werden in der Regel daran gemessen, ob unter ihrer Ägide ein neues Welthandelsabkommen zustande kommt oder nicht. Und die Chancen dafür sind äußerst gering.
Denn die letzte, vor rund zwölf Jahren in der Hauptstadt Katars begonnene Verhandlungsrunde, die so genannte Doha-Runde, haben Experten längst für klinisch tot erklärt. Seitdem ist offensichtlich: Vor allem in der Landwirtschaft sind Industrieländer auf der einen und Entwicklungs- bzw. Schwellenländer auf der anderen Seite hoffnungslos zerstritten. Die reichen Länder wollen ihre Agrarsubventionen nicht streichen, Entwicklungsländer mit Importzöllen ihre Produkte schützen.
Tatendurst hat keine Chance
"Wer immer da an der Spitze der WTO steht, ob er nun aus Lateinamerika kommt oder aus Asien, ist abhängig vom Verhalten der wichtigsten Mitglieder", sagt Rolf Langhammer vom Kieler Institut für Weltwirtschaft zur DW. "Und wenn die wichtigsten Mitglieder nicht bereit sind, ihre merkantilistischen Vorstellungen aufzugeben, dann wird auch ein sehr tatendurstiger Generaldirektor keine Chance haben."
Lohnen würde sich ein erfolgreicher Abschluss allemal. So gibt es Schätzungen, die besagen, dass ein erfolgreiches multilaterales Abkommen dem Welthandel Impulse in der Größenordnung von 300 bis 800 Milliarden US-Dollar bescheren würde. Und weil das so ist, warten die 159 Mitgliedsländer den ungewissen Ausgang der Doha-Runde schon lange nicht mehr ab und schließen zwischenstaatliche oder regionale Handelsabkommen ab, so genannte "Preferential Trade Agreements" (PTA).
Immer mehr Alleingänge
Diese regional begrenzten Freihandelszonen werden weltweit immer beliebter. 354 solcher Abkommen sind bereits in Kraft. Weitere 192 werden noch verhandelt. Um die Jahrtausendwende gab es erst rund 120 Vereinbarungen. Gerade hat Brasilien, die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas, angekündigt, auf eigene Faust ein Handelsabkommen mit der Europäischen Union abschließen zu wollen. Und Mitte Februar dieses Jahres haben die EU und die USA bekannt gegeben, sie wollten demnächst mit den Verhandlungen für eine Transatlantische Freihandelszone beginnen.
Das wäre die größte Freihandelszone der Welt. "In dem Moment, in dem dieses Abkommen verhandelt wird", kommentiert Langhammer das Vorhaben, "sehe ich keine Chancen mehr für ein Doha-Abkommen." Und auch der neue Chef der WTO wird erkennen müssen, dass die Welt sich weiter dreht und die Weltwirtschaft immer stärker auf global agierenden Produktionsverbünden beruht, die auf reibungslos funktionierende Nachschub-Ketten angewiesen sind.
Neue Rolle gesucht
Die WTO sucht hier noch ihre Rolle - sie will erreichen, dass sich die neuen Freihandelsabkommen für andere Staaten öffnen. Und sie will den regionalen Abkommen einen globalen Rechtsrahmen geben - wohl nicht zuletzt, um der in die Jahre gekommenen Organisation mit Sitz am Genfer See eine neue Existenzberechtigung zu verschaffen.
Denn an einen späten Erfolg der Doha-Runde glaubt inzwischen kein Politiker mehr. Was nicht heißt, dass die WTO sich selbst abschaffen könnte: "Institutionen sterben ja nicht, sie verkommen eher, als dass sie offiziell aufgelöst werden", sagt der Kieler Wirtschaftsprofessor Langhammer. So gesehen wird Roberto Azevêdo, der Neue an der Spitze der WTO, zwar nichts ausrichten - aber einen sicheren Job hat er allemal.