Kino Top Ten 2015
21. Dezember 2015Blickt man auf das Filmjahr 2015 zurück, so könnte man als Bilanz die besucherstärksten Filme des Jahres auflisten. In Deutschland besuchten mehr als 7,6 Millionen Menschen "Fack ju Göthe 2". Auf den Plätzen folgen der 3D-Animationsspaß "Minions" (knapp 7 Millionen) und der James-Bond-Film "Spectre" (über 6,2). Weltweit am erfolgreichsten war bisher "Jurassic World", der sich auf Rang 3 der ewigen Bestenliste schob. Pulverisiert werden diese Zahlen wahrscheinlich durch den neuen "Star Wars"-Film, der schon einige Rekordmarken durchbrochen hat.
Man könnte über das Filmjahr 2015 auch sprechen, indem man Preise auflistet. Die wichtigsten Oscars gewann die Filmsatire "Birdman". Den europäischen Filmpreis errang der Italiener Paolo Sorrentino für sein Werk "Ewige Jugend". Erwähnen müsste man auch die Sieger der großen Festivals (Den "Goldenen Bären" bekam der iranische Film "Taxi", in Cannes siegte das Flüchtlingsdrama "Dheepan", in Venedig setzte sich überraschend ein Film aus Venezuela durch). Schließlich räumte das filmische Experiment "Victoria" beim Deutschen Filmpreis mächtig ab.
Doch waren das auch die besten Filme? Jeder Rückblick auf das Filmjahr fällt subjektiv aus. Dem einen gefällt das große Blockbuster-Kino, der andere bevorzugt Kunst-Kino, ein Dritter Actionstreifen, ein Vierter liebt Animationsfilme etc.. Hier die Auswahl unseres Filmexperten Jochen Kürten:
A Most Violent Year (USA)
Für mich der Film des Jahres. Regisseur J. C. Chandor erzählt vom Aufstieg eines mittelständischen Heizölunternehmers im New York der frühen 1980er Jahre. Abel Morales will sich an Moral und Gerechtigkeit halten. Seine Frau Anna drückt gern auch einmal ein Auge zu. Wie Chandor hier Politik und Wirtschaft miteinander verzahnt, Privates und Öffentliches verbindet, ist präzise erzählt und messerscharf inszeniert: Meisterhaft! Oscar Isaac und Jessica Chastain sind das Schauspielerpaar des Jahres.
Leviathan (Russland)
Ein Spiegelbild in Sachen Leben & Arbeiten von der anderen Hemisphäre der Welt lieferte der russische Film Andrei Swjaginzew mit "Leviathan" ab. Hier muss sich der Automechaniker Nikolai gegen einen korrupten und machtgierigen Provinzbürgermeister wehren. Ein verzweifelter und aussichtsloser Kampf, ein düsteres Stück Gegenwartskino. "Leviathan" liefert ein wahrscheinlich ungeschöntes und realistisches Bild aus dem Russland Vladimir Putins.
Foxcatcher (USA)
Wieder eine Geschichte aus den 1980er Jahren aus den USA, diesmal basiert sie auf realen Geschehnissen. Regisseur Bennett Miller erzählt von den Ringer-Brüdern Mark und David Schultz, die bei der Olympiade 1984 Goldmedaillen für ihr Land gewinnen. Anschließend lernen sie den Multimillionär John E. du Pont kennen, den schwerreichen Sprössling der milliardenschweren US-Familiendynastie du Pont, des größten Chemieriesen der USA. Was Miller uns hier erzählt, ist ziemlich bizarr und endet tragisch. Fantastische Schauspielerleistungen! (In Deutschland liegt der Film inzwischen auf DVD beim Anbieter Koch Media vor)
Steve Jobs (USA)
Auch das ein Film über einen schwerreichen US-Amerikaner, der nicht mehr ganz genau entscheiden kann, was real ist und was Wahn. Die Geschichte des Apple-Gründers Steve Jobs wird vom Briten Danny Boyle als dreiaktiges Kammerspiel erzählt. Michael Fassbinder ist für zwei aufregende Kinostunden Steve Jobs. Und erzählt uns von einer Firma, die heute die Welt mit beherrscht und auch davon, auf welch tönernen Füßen das Imperium errichtet wurde.
Everything Will be Fine (Deutschland)
Eine der schönsten Überraschungen des Filmjahrs war das Comeback von Wim Wenders. Der war ja eigentlich nie richtig weg. Doch abgesehen von seinen bemerkenswerten Dokumentationen schien Wenders die künstlerische Kraft verlassen zu haben. Mit "Everything Will be Fine" zeigte uns der Altmeister des "Neuen Deutschen Films" noch einmal, warum er einst so gefeiert wurde - als Spielfilmregisseur! "Everything Will be Fine" ist Wenders at his best, melancholisch und melodramatisch, stilistisch ausgefeilt - und ganz nebenbei auch der Beweis dafür, dass man 3D-Filme abseits von Weltraumschlachten und Animationsspielereien sinnvoll nutzen kann.
Freistatt (Deutschland)
Und noch eine schöne Überraschung aus Deutschland. Das wohl bemerkenswerteste Spielfilmdebüt 2015 - aus deutscher Sicht. Regisseur Marc Brummund erzählt uns in "Freistatt" die erschütternden Erlebnisse eines 14-Jährigen in einem norddeutschen Erziehungsheim in den 1970er Jahren. Erschreckend vor allem, weil es diese Zustände in deutschen Heimen bis vor kurzem tatsächlich so gegeben hat. Brummund ist aber noch viel mehr gelungen, nämlich ein Film, der einem nahe geht, der dem Zuschauer aber auch die Augen öffnet - weil "Freistatt" große Kinobilder bietet.
Love & Mercy (USA)
Wer sich im Kino für Musik begeistern kann, der war in "Love & Mercy" richtig. Wie "Freistatt" erzählt auch dieser Film von einem, der sich nicht anpassen will. Es ist die tragische Geschichte des Beach Boy-Musikers Brian Wilson, der irgendwann in den 1960er Jahren in eine tiefe Krise gerät. Ein wunderbarer Film von Regisseur Bill Pohlad über Popgeschichte, die '60er und '70er Jahre und die Frage, wie man sich in der Welt behaupten kann, wenn man sich nicht auf Konventionen und Erwartungshaltungen einlassen will.
Saint Laurent (Frankreich)
Von einem sensiblen Künstler erzählt auch dieses Biopic. Das französische Modegenie Yves Saint Laurent agierte wie Brian Wilson auf dem schmalen Grad zwischen Genie und Wahnsinn. Über YSL ist schon im vergangenen Jahr ein toller Film in die Kinos gekommen ("Yves Saint Laurent" von Jalil Lespert mit Pierre Niney). Diese zweite Film-Version von Regisseur Bertrand Bonello mit Hauptdarsteller Gaspard Ulliel ist ein wenig kühler, auch experimenteller. Auch "Saint Laurent" ist ein Film, der uns einen einzigartigen Menschen und Künstler ganz nahe bringt. (In Deutschland schaffte es der Film nicht ins Kino und kam beim Anbieter Universum Film nur auf DVD heraus.)
Taxi (Iran)
In eine ganz andere Welt entführte uns der in seiner Heimat bedrängte iranische Regisseur Jafar Panahi. Der setzte sich einfach in ein Taxi und holte die Welt, wie sie sich ihm präsentierte, in ein Auto. Der Film ist schlicht und einfach gefilmt, aber ungeheuer berührend und wahrhaftig. "Taxi" steht zwar auch für den Mut eines vom Staat malträtierten Filmemachers, für engagiertes, politisches Kino also, ist aber gleichzeitig ein poetisches Kunstwerk. Zu Recht gab es dafür im Februar den Goldenen Bären.
Amy (USA)
2015 war auch ein Jahr der großen Dokumentationen. Es gab drei magische Filme über das Kinomachen: "Altman", "This is Orson Welles" und "Hitchcock/Truffaut". Einen berührenden Film über den verstorbenen Kritiker Michael Alten von Dominik Graf: "Was heißt hier Ende?" (auf DVD bei goodmovies erschienen) und beim Filmfest in Venedig einen wunderbar verspielten Film der US-amerikanischen Musikerin Laurie Anderson "Heart of a Dog".
Vor allem bleibt aber die Musikdokumentation "Amy: The Girl Behind the Name" im Gedächtnis. Auch wer sich weniger für die Musik und das Leben der früh verstorbenen Soulsängerin Amy Winehouse interessiert hat, war begeistert von diesem Film-Porträt. Das kurze wie intensive Leben wird hier von Regisseur Asif Kapadia ausschließlich mit Originalaufnahmen gezeigt. Amy Winehouse starb mit 27 Jahren.
So alt wurde auch Janis Joplin. Was beide verbindet, das kann man dann 2016 im Kino sehen: "Janis: Little Girl Blue" (Start am 14.1.) ist eine ebenso bewegende Dokumentation - und ein ausgezeichneter Start ins neue Filmjahr!
In der aktuellen Sendung KINO wird ebenfalls auf das Filmjahr 2015 zurückgeblickt. Dort können Sie sehen, welche Filme die Kollegen Scott Roxborough und Hans Christoph von Bock in den letzten 12 Monaten beeindruckt haben.