Kolumbien experimentiert mit dem Frieden
1. Oktober 2016Wahlkämpfer Julian Valencia hat sich mit seinen fünf Mitstreitern einen strategisch besonders günstigen Ort in der kolumbianischen Hauptstadt ausgesucht. Die "Carrera 7" in Bogota ist an diesem Tag besonders bevölkert. In der Nähe des Präsidentenpalastes tummeln sich die Passanten in der Fußgängerzone und fast jeder nimmt einen der Flyer mit, die der 35 Jahre alte Familienvater verteilt.
Ein dickes "Si" ist darauf zu lesen. "Ja zum Frieden" ist der Slogan, der das Stadtbild beherrscht. Die Befürworter der Friedensvereinbarung zwischen der kolumbianischen Regierung und der linksgerichteten Guerilla-Organisation FARC sind zumindest optisch in der Überzahl. Litfaßsäulen, Häuserwände, Fenster in Wohnkomplexen: Kaum ein Platz, wo die Unterstützer des "Si" ihre Botschaft nicht platziert haben.
"Ich kämpfe für ein Ja, weil ich nicht möchte, dass meine Kinder in einem Land aufwachsen, in dem die Gewalt die Nachrichtensendungen bestimmt. Ich möchte, dass die nächste Generation ohne Krieg aufwächst, der ohnehin ungerecht ist", sagt Julian Valencia. Er ist optimistisch, dass das Ja-Lager gewinnt. "Man kann doch nicht mit Nein stimmen".
Uribe kämpft gegen das Abkommen
Nur ein paar Schritte weiter klingt die Stimme des mächtigsten Gegners des Friedensabkommens aus dem Radio: Alvaro Uribe, Präsident von 2002 - 2010. Seine Anhänger sagen, sein militärischer Einsatz gegen die FARC, umgesetzt vom damaligen Verteidigungsminister und heutigem Präsidenten Juan Manuel Santos, habe die Guerilla überhaupt erst an den Verhandlungstisch gezwungen. Uribe kämpft gegen das Abkommen, weil er es für ungerecht hält.
Der rechtskonservative Politiker, inzwischen Senator, ist immer noch enorm populär in Kolumbien. Er tingelt von Radiosender zu TV-Studio. "Wir liefern das Land den Narcoterroristen der FARC aus", kritisiert Uribe. Es müsse nachverhandelt werden. Damit trifft er vor allem einen Punkt, der das Nein-Lager umtreibt. Die Amnestie-Regelung in der Vereinbarung ist vielen Kolumbianern ein Dorn im Auge. Ihnen gehen die Zugeständnisse zu weit. Sie wollen die Guerillabosse lieber im Gefängnis als im Parlament sehen.
Die neue Partei, die aus der FARC hervorgeht, bekommt zunächst zehn Sitze im Parlament garantiert. Die Abgeordneten verfügen allerdings über kein Stimmrecht. Erst 2026 muss sich die politische Nachfolgeorganisation der Guerilla dem Wählervotum stellen. Genau um diese juristischen Grundlagen geht es am Informationsstand eines Anwaltskollektivs unweit des Parks Bolivar. Die überwiegend jungen Juristen gehören zu den vielen Freiwilligen, die Aufklärungsarbeit leisten. "Es sind viele Lügen im Umlauf", sagt Fernanda Giraldo, eine der Aktivistinnen. "Wir müssen die Leute vor den Gerüchten schützen."
Kompliziertes Vertragswerk
In der Tat: Der 297 Seiten starke Friedensvertrag ist selbst von juristischen Experten nicht so leicht zu verstehen. Kaum einer macht sich die Mühe, sich komplett durch das Werk durchzukämpfen. Die jungen Kuristen werfen Ex-Präsident Uribe und seinen Anhängern vor, gezielt Unwahrheiten zu verbreiten. Zum Bespiel über Zugeständnisse an die FARC, die gar nicht existieren würden. Schwere Menschenrechtsverletzungen, so erklärt es die Stimme aus dem Lautsprecher im Zelt, bleiben von der Amnestie ausgeschlossen. Die Täter müssen wahrhaftig aussagen.
Auch Studenten und Dozenten der Universität Nacional versuchen, das Publikum zu überzeugen. Sie hatten im Hintergrund bei den vierjährigen Verhandlungen zwischen Regierung und FARC mitgeholfen, in dem sie gemeinsam mit der Kirche die Opfer-Vertreter auswählte, die in Havanna den Tätern gegenüberstanden und von ihrem Leid berichteten. Sie verteilen Aufklärungsmaterial an den Stationen des Bus-Systems Transmilenio.
Santos: "Es gibt keinen Plan B"
"Ein Nein wäre für die jungen Menschen in Kolumbien eine große Enttäuschung, eine richtige Frustration", sagt Tom Koenigs, der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für den Friedensprozess im Gespräch mit der DW in Bogota. "Das würde das Land um eine Generation zurückwerfen. Künftige Präsidenten würden sich nicht mehr an das Projekt heranwagen. Der Krieg würde wieder neu ausbrechen, wenn auch vielleicht in anderer Form."
Laut Umfragen hat das Ja-Lager einen Vorsprung. Doch es gibt noch viele Unsicherheiten. Ob es das Ja-Lager schafft, die notwendige Zahl von rund vier Millionen Stimmen zu mobilisieren, hängt auch vom Wetter ab. Doch für Sonntag ist Regen vorhergesagt. Zudem ist unklar, ob die Prognosen stimmen, denn viele Gegner bekennen sich nicht öffentlich zu ihrer Ablehnung.
Kolumbiens Präsident Santos weiß jedenfalls, dass seine politische Laufbahn beendet ist, wenn es kein Ja zum Frieden gibt. "Ich habe keinen Plan B", sagt Santos. Gewinnt er allerdings die Abstimmung, dürfte er bei der Vergabe des Friedensnobelpreises zu den Favoriten gehören. Es steht viel auf dem Spiel am Sonntag. Die Zukunft eines ganzen Landes, die eines Präsidenten und einer Guerilla.