Kolumne: Bach, Nijinski und Versace – das kann nur Berlin!
4. Februar 2018Schillernd und manchmal ganz schön schräg sind die Gewächse, die aus dem Humus des wuseligen Berliner Kulturlebens nach oben ans Licht der Öffentlichkeit drängen. Manchmal finde ich sie eher zufällig, wie jetzt im Berliner Watergate-Club.
Seit der Gründung des Clubs im Jahre 2002, direkt an der Spree gelegen, leben hier Technofreaks ihre Leidenschaft aus. Und nach drei Tagen und Nächten müssen sie schon mal daran erinnert werden, dass sie auch noch ein Zuhause haben. Statt der wiedervereinigten Jugend tanzt hier heute die ganze Welt, weswegen ein Freund aus der Berliner Kreativen-Szene das Watergate verächtlich einen "Koksertouristenclub" nennt.
Klassik statt Techno im Watergate
Daran musste ich denken, als ich das Watergate sozusagen beim Fremdgehen ertappe: mit klassischer Musik. Das Kulturradio des Berliner Rundfunksenders RBB hatte zur Klassik-Lounge mit der jungen französischen Pianistin Lise de la Salle geladen. Sie spielte Bach, Chopin und Prokofjew. Aus dem Flügel drang der überwältigende Klangfluss der Musik dieser großen Komponisten, den Lise de la Salle kunstvoll modellierte, mit hoher musikalischer Intelligenz und ziemlich viel Temperament. Das Schöne dabei: Direkt hinter dem Flügel tat sich ein anderer Fluss auf: Die Spree, deren trägen Wasserlauf man durch die bodentiefen Scheiben des Watergate mitverfolgen konnte. Was für ein Schauspiel! Und was für ein Erlebnis! Mit den Augen hören oder mit den Ohren sehen: Das eine hob das andere jeweils auf eine andere Bewusstseinsebene. Einfach genial!
Was diesen Abend für mich so besonders machte? Es war der ikonische Ort eines legendären (wenn auch mittlerweile umstrittenen) Technoclubs mit Spreeblick in der Kombination mit herrlicher klassischer Musik.
Wenige Tage zuvor war es das umwerfende Nijinsky-Ballett mit der Stuttgarter Gauthier Dance Company, deren Gastspiel die Berliner Festspiele zu Recht als "Special" bewarben; denn so eine besondere Ballettperformance erlebt man in Berlin höchstens, wenn die Choreographin Sasha Waltz mit ihrem freien Ensemble eine Sternstunde hat.
Nijinskis emotionales Trommelfeuer bei den Berliner Festspielen
Dieser revolutionäre, nach vorne drängende Gestus Vaclav Nijinskys, einer Ikone der Ballettgeschichte, der den Aufbruch des Balletts in die Moderne verkörperte, der Debussys "Nachmittag eines Fauns" und Strawinskys "Le Sacre du Printemps" ein unverwechselbares Gepräge gab: Ja, dieser unbeugsame Sturm und Drang war in jeder Minute zu spüren in der extrem dynamischen Choreographie von Marco Goecke (siehe Artikelbild oben). Er verzichtete auf eine Nacherzählung von Nijinskys Leben, das tragisch in der Dunkelheit schizophrener Umnachtung endete. Er entwarf vielmehr theatrale Szenen, etwa die eckig-hart getanzten Übungen des frühen Ballettunterrichts, das schwül-erotische Männer-Duett aus Debussys "Faun" oder die absolute Einsamkeit eines kranken und gebrochenen Mannes.
Uffz, da musste ich erstmal tief Luft holen nach diesen 70 Minuten emotionalen Trommelfeuers.
Versaces Vergänglichkeit zum Trotz
Zugegeben, bei meinem dritten kulturellen Spezial-Event, der großen Gianni-Versace Retrospektive im Berliner Kronprinzenpalais, ging es emotional verhaltener zu. Aber auch hier umweht Tragik das Geschehen, die Erinnerung an die Ermordung des italienischen Star-Designers vor seiner Villa in Miami. Und neben der Tragik fühle ich den Geist der Vergänglichkeit. Denn trotz – oder wegen - aller prallen Farbigkeit und erotischen Energie in Versaces Kollektionen, trotz – oder wegen - seiner atemberaubenden Roben für Schönheitenn und berühmte Stars wie Lady Diana, Lady Gaga, Sting oder Elton John. Mir geht nicht aus dem Kopf, was mir Versaces männliches Lieblingsmodel, Marcus Schenkenberg, an diesem Abend sagte: Versace sei heute "too much". Er sei einfach aus der Mode gekommen, an ein Revival glaube er nicht. Soweit so traurig. Jetzt verstehe ich besser, was mir die Veranstalter zuflüsterten. Dass nämlich das gegenwärtige Modehaus Versace nichts mit dieser Retrospektive zu tun haben wolle.
Glaubt Schwesterherz Donatella selbst nicht mehr an ihren Bruder, hält sie ihn gar für geschäftsschädigend? Ist das Geschwisterliebe auf Italienisch? Umso dankbarer bin ich, dass die Retrospektive noch einmal die Zeit angehalten hat und uns einen Moment mit der Mode dieses großen Designers geschenkt hat. Wie schön, dass auch vergängliche Blüten auf dem Humus des Berliner Kulturlebens ihren Platz finden.