Kolumne: Wie krank macht Berlin?
15. Oktober 2017Vor einiger Zeit bereitete mir die Berliner Boulevardzeitung B.Z. ein paar sehr unruhige Tage. Sie titelte: "Warum Berlin unser Hirn schrumpfen lässt". Grund sei vor allem der chronische Stress in Berlin, der Funktionsweise und Struktur bestimmter Hirnbereiche verändere. Na ja, kann damit etwas anderes als das aufreibende Party-Leben gemeint sein?
Berlin stresst
Aber beim Weiterlesen wurde mir klar: Es sind die aufreibenden Jobs und das entbehrungsreiche Leben der hart arbeitenden Mittelschicht, die einsam machen können und sozial stressen. Und so dem Hirn des Berliners zusetzen. Kein Wunder, dass ich mich angesprochen fühle.
Liebe Leser, ich wende mich jetzt vertrauensvoll an Sie. Seit gut einem Jahr verfolgen Sie meine Arbeit. Haben Sie irgendwelche Veränderungen bemerkt? Ich bitte um schonungslose Rückmeldungen an: [email protected]
Zum Glück hat ein Bekannter von mir, Mazda Adli, ein Buch über dieses Thema geschrieben: "Stress and the city" heißt es. Mazda Adli ist Psychiater und lebt in Berlin.
Zunächst einmal beruhigt er mich. Entwarnung: Wenn Berlin die Hirne schrumpfen ließe, wäre er nicht mehr in der Stadt. Okay, das würde ich jetzt auch so sagen. Aber immerhin ist Adli ausgewiesener "Hirnologe". Ich glaube ihm, dass es – wie immer – ein bisschen komplizierter ist.
Es fängt an wie viele Berlin-Geschichten. Berlin ist mal wieder Spitze. Diesmal allerdings Spitzenreiter bei den Singlehaushalten. Kaum zu glauben, der Berliner ist ein Eigenbrötler. Mehr als 30 Prozent leben alleine. Im Bundesdurchschnitt sind es nur um die 20 Prozent. Ideale Bedingungen also für "soziale Einsamkeit", findet Adli. Und die ist ein möglicher Auslöser für den so gefährlichen chronischen Stress.
Soziale Isolierung. Ich prüfe mich mal selber. Natürlich habe ich Freunde und noch mehr Bekannte in Berlin. Und ich lebe nicht alleine. Doch kommt es mir nur so vor oder ist es wirklich so, dass seit meiner Rückkehr aus Washington manche Menschen einen Bogen um mich machen? Auch manche Kollegen? Bestimmt nur Einbildung, höre ich schon die innere Stimme in meinem Hinterkopf. Aber ich bin sensibler geworden. Auf jeden Fall ist Berlin für mich anstrengender als Washington. Die großen Entfernungen, das viele Fahren, die späten Termine, die kühlere Mentalität. Alles kommt zusammen.
Berlin schläft schlecht
Ruhig Blut, sage ich mir. Schlafen wir eine Nacht darüber. Denkste! Wenn das nur so einfach wäre in Berlin. Berlin ist eine Stadt, die niemals schläft, heißt es so schön und brutal. Natürlich abgekupfert von New York. Doch lassen wir den Tatbestand des Plagiats mal beiseite. Es stimmt, Berlin schläft schlecht. Eine Studie derDAK-Krankenkasse lässt bei mit die Alarmglocken schrillen: 76 Prozent aller Berliner Erwerbstätigen schlafen nicht gut. Das sind 1.25 Mio. Arbeiter, Angestellte, Selbständige. Und selbst für Beamte gilt das.
Ja, und auch für mich: Die Überflut von Eindrücken und Erlebnissen, unregelmäßige Bettgehzeiten, Smartphone-Spielen bis kurz vorm Wegnicken: Das ist nicht gesund.
Berlin heilt?
Macht Berlin also krank? Nein, ruft Mazda Adli und ich stimme in seinen Ruf entschieden ein. Die Stadt entschädigt beispielsweise mit tollen Kulturangeboten: Opern, Orchester, Theater und Museen halten gesund. Das kulturaffine Hirn des Berliners reagiert positiv. Aber Achtung: Die Kulturtempel entfalten keine magische Wirkung durch ihre bloße Präsenz. Man muss schon hingehen.