Ja, ich habe Alexander Lukaschenko gewählt. Das war 1994, ich war neun. Meine Oma hat mir den Kugelschreiber gegeben und gezeigt, wo ich das Kreuzchen setzen soll. Das war mir eine Ehre! Sie glaubte fest daran, dass dieser Mann, der im Vergleich zu den alten sowjetischen Machthabern so lebendig und volksnah wirkte, unsere junge Republik Belarus nach vorne bringt. Was würde meine Oma wohl sagen, wenn sie sähe, was 26 Jahre später aus Belarus geworden ist?
Schwerbewaffnete Polizisten prügeln auf einen am Boden liegenden Mann mit Schlagstöcken ein. "Es lebe…", schreit der. Ein Polizist tritt ihm ins Gesicht, in den Bauch, auf den Rücken. Der Mann am Boden krümmt sich vor Schmerz und weint. Ich weine mit ihm.
Mut der Massen
Gleichzeitig bin ich begeistert und stolz, wenn ich sehe, wie Bürger kilometerlange Menschenketten bilden. Wie Musiker gegen die Wahlfälschung ansingen. Wie Ärzte Plakate halten: "Stoppt die Gewalt!" Sie alle riskieren festgenommen zu werden - wie inzwischen mehr als 6000 Menschen seit Beginn der Proteste in der Wahlnacht am 9. August. Nachdem das Internet seit Mittwoch wieder verfügbar ist, kann nun jeder in Belarus online die Bilder von Folter und Gewalt sehen.
Menschen liegen dicht an dicht auf dem Betonboden im Hof eines Gefängnisses in Minsk. "Sie werden geschlagen und gequält", sagt die Frau hinter der Kamera. Sie filmt von ihrer gegenüberliegenden Wohnung aus. Die Hand, die das Smartphone hält, zittert, ihre Stimme auch. Kann mich bitte jemand wecken und sagen, dass das alles nur ein schlechter Traum ist?
Die Wahl in Belarus ähnelt einem Politthriller: Eine Hausfrau mit dem Namen Swetlana Tichanowskaja wird überraschend zur Herausforderin des langjährigen, autoritär regierenden Präsidenten. Eigentlich hat sie das gar nicht vor. Aber ihr Ehemann, ein Blogger, der sich zur Wahl stellen will, wird verhaftet. Sie kandidiert, weil sie ihn befreien möchte. Und wird plötzlich zum Symbol des Protests. Sie wächst über sich hinaus, versammelt landesweit Tausende Menschen, findet die passenden Worte: "Wenn du uns liebst, lass uns gehen!"
Stoppt das Blutvergießen!
Die Menschen in Belarus wissen: jetzt oder nie! Aus Blut, Schmerz und Solidarität erwächst gerade eine neue Nation. Die Menschen haben die Angst überwunden und ihre Würde zurückerobert. Entweder schafft es das Volk, sich selbst von der Diktatur zu befreien. Oder die Proteste werden - wie schon 2001, 2006 und 2010 - niedergeschlagen. Nur würde diesmal dann noch mehr Blut fließen, es noch mehr Opfer geben. Denn jetzt ist tatsächlich die Mehrheit im Land gegen Lukaschenko. Um sie im Zaum zu halten, müsste man Belarus in ein Straflager mitten in Europa verwandeln.
Täglich erreichen mich Nachrichten von Freunden aus der Heimat: "Es fühlt sich wie eine Vergewaltigung an", "Ich habe einen Kloß im Hals", "Es wird nie mehr sein wie zuvor" und: "Wo ist die EU?" Berlin liegt nur etwa 1000 Kilometer von Minsk entfernt. Es reicht nicht, tiefe Besorgnis zu äußern oder die Bereitschaft zu zeigen, über Sanktionen nachzudenken. Deutschland und die EU müssen dringend mehr machen, um das Blutvergießen in Belarus zu stoppen.
Einfach mal Lukaschenko anrufen
In einem Interview, das drei Tage vor den Wahlen erschien, äußerte Alexander Lukaschenko seinen Respekt vor Angela Merkel. Sie sei "zielstrebig und fleißig" und die einzige westliche Politikerin, die ihn um die Freilassung von politischen Gefangenen gebeten habe. Tatsächlich wurden 2015 alle politischen Gefangenen freigelassen - und kurz darauf die Sanktionen gegen Lukaschenko aufgehoben.
Neulich sprach ich mit meinem sechsjährigen Sohn über die Wahlen in Belarus. Er fragte, ob der Mann mit dem Schnurrbart oder die Frau mit den dunklen Haaren gewonnen habe. "Der Mann mit dem Schnurrbart, aber er hat geschummelt", sagte ich. "Das darf er nicht, das müssen wir ihm sagen. Können wir ihn anrufen? Hast du seine Nummer, Mama?" "Nein, die habe ich nicht", antwortete ich. Frau Merkel, haben Sie seine Nummer noch?