CDU und SPD in der Therapie
Seit sich CDU und SPD am Sonntag getrennt voneinander auf Klausuren zurückgezogen haben, ist von Traumatherapie die Rede. Ein Trauma ist laut Lexikon „eine starke seelische Erschütterung, die (im Unterbewusstsein) noch lange wirksam ist". Die Traumata der gemeinsam regierenden Parteien sehen kurz gefasst so aus:
Die Sozialdemokraten leiden darunter, dass ausgerechnet die Solidaritätspartei SPD vor 16 Jahren den Sozialstaat beschnitten hat und seitdem links von ihnen im Parlament stabil eine Zehn-Prozent-Partei sitzt (Die Linke). Die Christdemokraten hadern damit, dass ausgerechnet die Partei für Recht und Ordnung, die CDU, 2015 die Kontrolle über die Zuwanderung verloren hat und seitdem rechts von ihnen im Bundes- sowie allen 16 Landesparlamenten eine Zehn-Prozent-Partei sitzt (die AfD).
Dazu gibt es noch das gemeinsame Trauma Große Koalition: Nach der letzten Regierungszeit aus Konservativen und Sozialdemokraten schnitten beide bei der Bundestagswahl 2017 schlechter ab denn je, und haben dann ausgerechnet dieses Bündnis wiederholt. Alle drei Erschütterungen waren für SPD und CDU extrem stark und sind teilweise schon sehr lange wirksam. Jetzt machen sich beide an die Therapie.
Aufarbeiten in der Werkstatt
Die CDU arbeitet in einem sogenannten "Werkstattgespräch" die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel auf. Zwar hat die Bundeskanzlerin selbst schon mehrfach betont, dass sich eine Situation wie 2015 nicht wiederholen darf, aber jetzt darf die Partei mit einer neuen Vorsitzenden und vielen Experten noch einmal darüber diskutieren, wie sie das genau sicherstellen will.
Wichtig ist den Konservativen aber vor allem, dass die Kritiker innerhalb und außerhalb der Partei sehen: Die CDU erkennt Fehler und will sie abstellen. Zwar beteuern Teilnehmer der CDU-Klausur, dass all dies keine Abrechnung mit der Bundeskanzlerin und auch kein Rechtsruck sein soll. Die Überschrift des auflagenstarken rechts-von-der-Mitte-Blattes Bild-Zeitung verkündet ihren Lesern aber genau das: "Flüchtlingspolitik: CDU rechnet mit Merkel ab".
Bei der SPD sieht es ähnlich aus. Die legt ein Konzept für einen "neuen Sozialstaat" vor. Zwar betont Parteichefin Nahles, dass man sich für nichts entschuldigen müsse. Dreimal so oft sagt sie aber: "Wir lassen Hartz IV hinter uns." Die Arbeitsmarktreform Hartz IV steht nicht nur in der SPD als Chiffre für weniger Solidarität mit Arbeitslosen. Nun fordert die SPD in ihrem Konzept wieder mehr Menschlichkeit. Und die Überschrift der mächtigen links-von-der-Mitte-Organs Süddeutschen Zeitung lautet: "Die SPD bricht mit Hartz IV"
In der Substanz legt die SPD mehr neue Ideen vor als die CDU, die Konservativen aber können den Neuanfang mit einer Person verbinden: der neugewählten Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer. Beide Parteien könnten es also schaffen, den Kritikern innerhalb und außerhalb der Partei das Signal zu geben: Wir machen einen Schnitt und nähern uns wieder unserem alten Markenkern an. Das CDU-SPD-Kalkül: die Wähler wissen wieder, wofür die Volksparteien stehen (was zuletzt ein Problem war) und brauchen keine laut kreischenden Karikaturen links und rechts (Linke und AfD).
Das jeweilige Profil schärfen, ohne zu streiten
Kommt diese Botschaft bei den Deutschen an, ließe sich auch das GroKo-Trauma lösen: Zwei Volksparteien regieren zusammen, werden durch jahrelange Kompromisse immer ähnlicher und am Ende wechseln die Wähler zu klarer konturierten Parteien am Rand. Wenn jetzt die CDU die SPD-Vorschläge als "Linksruck" kritisiert, dann nutzt das im Zweifel der SPD - umgekehrt ist es genauso. Nur, wenn sich die Volksparteien unterscheiden, können sie trotz Großer Koalition ihr Profil bewahren und potenzielle Wähler mobilisieren.
Trotzdem ist nicht sicher, ob die Rechnung aufgeht. Gefahr 1: Die sachliche Auseinandersetzung sieht nach Streit aus. Gefahr 2: Durch den Ruck nach außen gehen Wähler in der Mitte verloren. Gefahr 3: Bei einer Kopie der Ränder wählen die Bürger "das Original". Wenn aber CDU und SPD ihre Flügel stärken, ohne die Mitte zu verlieren, kann der Kurs erfolgreich sein. Gewinner sind dann die Wähler der Mitte, die sich zwischen klaren Alternativen entscheiden können und die Volksparteien selbst, die erfolgreich ihre Traumata bewältigt haben.