Es lebe der Erdoganzustand!
Zwei Jahre sind seit dem noch immer nicht vollständig aufgeklärten Putschversuch vom 15. Juli 2016 vergangen. Seitdem erlebt die Türkei einen Albtraum. Einen Albtraum, der ein großes Land und Hunderttausende seiner Bürgerinnen und Bürger in einen Sog dunkler Gewässer zog: Über 70.000 Menschen wurden ohne rechtliche Grundlage verhaftet. Über 121.000 Beamte wurden per Dekret aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Die rechtlichen Grundlagen waren umstritten, politisch und gesellschaftlich waren die Entscheidungen vielfach nicht nachvollziehbar. In vielen Fällen machte man sich nicht einmal die Mühe, Gründe für die Entlassung anzugeben. Denn wer muss schon die Justiz fürchten, wenn es doch den Ausnahmezustand gibt?
Ausnahmezustand verzichtbar
Zielstrebig wurde die Türkei neu gestaltet. Doch jetzt, nach der kritischsten Präsidentschaftswahl in der Geschichte des Landes, benötigt die Regierung den Ausnahmezustand nicht länger. Auf eine achte Verlängerung konnte sie daher getrost verzichten.
Was geschieht jetzt? Wird die Türkei zu ihrem einstigen, mehr schlechten als rechten, aber immerhin einigermaßen funktionierenden demokratischen System zurückkehren? Werden jetzt die unrechtmäßig inhaftierten Journalisten, Politiker, Aktivisten und andere unschuldigen Bürger freigelassen? Werden alle, die von einem Tag auf den anderen ihre Arbeit und damit ihre Existenzgrundlage verloren haben, wieder zu ihrer Arbeit zurückkehren können? Werden die Menschen wieder von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch machen können? Werden Journalisten wieder ungehindert berichten und ihre Meinungen frei äußern können?
Nach all dem sieht es leider nicht aus. Denn Recep Tayyip Erdogan hat nun endlich sein Ziel, das neue Präsidialsystem erreicht. Jahrelang hat er darauf hin gearbeitet mit der Absicht, die Türkei konservativer und islamistisch zu gestalten. Doch noch ist das System, das dem Präsidenten deutlich mehr Befugnisse gibt, nicht vollständig etabliert. Zwar werden neben dem Geheimdienst unzählige weitere staatliche Institutionen dem Staatspräsidenten direkt untergeordnet. Der Staat wird umgekrempelt - alles soll abhängig sein von einer Person. Doch noch braucht Erdogan immer noch Instrumente, mit denen er die Justiz umgehen kann. Und noch braucht er einen Hebel, um die freien Stellen im öffentlichen Dienst sowie im Staatsapparat allein mit seinen Leuten zu besetzen, seine weiter geplanten Schritte umzusetzen, eventuelle Widersprüche und Proteste zu verhindern und oppositionelle Stimmen zum Schweigen zu bringen. Die Instrumente für diese Ziele: das geplante Antiterrorgesetz sowie die Befugnis des Präsidenten, Dekrete zu erlassen.
Unrecht wird zum Recht
Der Entwurf des neuen Antiterrorgesetzes verwandelt den Ausnahmezustand in einen "dauerhaften Normalzustand". Rechte und Freiheiten der Bürger werden weiter beschnitten. Außerdem sieht der Gesetzentwurf vor, dass der Ministerrat für weitere drei Jahre veranlassen kann, Beamte ohne Angaben von Gründen aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen. Und Erdogan erhält nun die Befugnis, Dekrete zu erlassen. Mit seinen Präsidial-Dekreten kann er auf vielen Rechtsgebieten nach Belieben Gesetze verabschieden - das Parlament braucht er dafür nicht mehr. Zusätzlich zur Legislative gerät nun auch die Judikative in seine Fänge: Von den 15 Mitgliedern des Verfassungsgerichtshofs kann er zwölf selbst bestimmen.
Die Stimme der freien Medien ist schon seit langem verstummt. Über 130 Journalisten sitzen im Gefängnis, 90 Prozent der türkischen Medien sind regierungsnah oder offen propagandistisch für die Regierung tätig.
Erdogan ignoriert schon lange die von der Türkei ratifizierten internationalen Konventionen zum Schutz der Menschenrechte sowie die Aufrufe aus allen Richtungen zur Rückkehr zur Demokratie. Er hat das Unrecht zum Recht erhoben und wird so weiterhin sein Land regieren. Sein Ziel: Das Land noch konservativer, noch religiöser, nach außen verschlossener und noch autoritärer zu machen. Und so lange wie möglich an der Macht zu bleiben. Die Türkei befindet sich in einem Sog in immer dunklere Gewässer. Dieser Albtraum wird noch lange andauern. Allen, die demokratische Türkei wollen, stehen schwere Zeiten bevor.
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