Kommentar: Der eigentliche Skandal von Istanbul
17. November 2005Der europäische Fußball hat einen neuen Skandal: Ersatzspieler krankenhausreif getreten, Trainer geschlagen, Journalisten handgreiflich an ihrer Arbeit gehindert - die Fußballwelt ist vollkommen zurecht empört über die Vorfälle im Kabinengang nach dem Ausscheiden der Türkei in der WM-Qualifikation gegen die Schweiz. Überrascht sein darf aber niemand - höchstens deswegen, weil die Sache noch einigermaßen glimpflich abging.
Die Tritte und Schläge, die Schikanen für die Schweizer Mannschaft am Istanbuler Flughafen, die Eier und die Steine, die auf der Fahrt zum Hotel an den Schweizer Mannschaftsbus flogen, sie haben eine Vorgeschichte. Dies ist der eigentliche Skandal und der begann schon am Wochenende davor in Basel: Mit Abpfiff des Hinspiels hatte sich angesichts der enttäuschenden 0:2 Niederlage ein ganzer Chor an Scharfmachern dazu entschlossen, an den Emotionen zu zündeln. Eine unselige Allianz aus Trainer Fatih Terim, Offiziellen und Journalisten entwarf Verschwörungstheorien und geißelte vermeintliche Verletzungen der türkischen Ehre - alles mit dem Ziel, im Rückspiel in Istanbul vielleicht noch ein paar Funken mehr Leidenschaft in die Mannschaft und die Zuschauer zu bringen. An vorderster Front der Aufpeitscher: Der ultra-nationalistische Manager der türkischen Nationalmannschaft, Davut Disli.
Nichts wäre falscher, dies als türkische Fußballfolklore ab zu tun und deshalb zu verharmlosen. Vor diesem für den türkischen Fußball zukunftsweisenden Spiel eine regelrechte Hass-Kampagne gegen die Schweiz zu starten, zeugt von strafbarer Verantwortungslosigkeit. Schließlich war es in Istanbul, wo im Jahr 2000 zwei englische Fußballfans erstochen wurden. Es war in Istanbul, wo deutsche U21-Junioren nach einem Sieg in der EM-Qualifikation 2003 türkische Enttäuschung zu spüren bekamen und im Kabinengang verprügelt wurden. Selbst der Schiedsrichter des Spiels wurde damals am Kopf verletzt und musste mit zwei Stichen genäht werden.
Vielleicht ist es zu viel verlangt, von den leidenschaftlichen türkischen Fans Fairness und Respekt vor dem Gegner zu erwarten. Man muss aber von den Offiziellen des türkischen Fußballverbandes erwarten können, dass sie die Fans in Zukunft nicht noch zusätzlich aufhetzen.
Ob eine drakonische Strafe der FIFA wie etwa der Ausschluss von der nächsten WM einer positiven Entwicklung des türkischen Fußballs zuträglich wäre, sei einmal dahin gestellt. Bei der WM 2006 wird Deutschland nun ohnehin keine türkische Mannschaft begrüßen können - fraglos die größte Überraschung der WM-Qualifikation überhaupt. Sportlich ist dies ein Verlust: Es sei schließlich nicht vergessen, dass die Türkei bei der letzten Weltmeisterschaft als Dritter Schlagzeilen machte.
Der Weg der Türkei in die Weltspitze ist somit erstmal verbaut - vielleicht die Möglichkeit für den ohnehin von Korruption gebeutelten türkischen Fußball über einen Mentalitätswechsel nachzudenken. Sonst wird es wohl für den türkischen Fußball weiter schlechte Nachrichten geben. Wie etwa diese von Anfang November: Die Europäische Fußball-Union hat die Bewerbung der Türkei zur Austragung der Europameisterschaft 2012 frühzeitig abgelehnt.