Kommentar: 64. Berliner Filmfestspiele
16. Februar 2014
Hunderttausende Besucher können nicht irren. Soviele strömten in den vergangenen zehn Tagen in die Kinos der Stadt. Die Berlinale ist ein Publikumsfestival. Wer genügend Geduld und Stehvermögen hat, der bekommt eine Karte. Vielleicht nicht in den Wunschfilm zur Wunschzeit, aber bestimmt in irgendeine Vorstellung während des Festivals.
"Berlinale Goes Kiez" heißt eine noch junge Sektion des Festivals, die man auch als Motto für die ganze "Kulturveranstaltung Berlinale" hernehmen könnte. Das Festival geht zu den Menschen, auch außerhalb des Zentrums Potsdamer Platz. Es erreicht die kulturinteressierte Masse. Damit hat sich das Festival ein Alleinstellungsmerkmal erobert.
Die Konkurrenz verfügt nicht über ein solch breites Angebot
Die Konkurrenz in Cannes mag die meisten künstlerisch herausragenden Filme eines jeden Kinojahrgangs haben. In Venedig dürfen sich die Glücklichen, die eine Karte für das (viel kleinere) Festival ergattern, über das historische Ambiente freuen. Die nordamerikanischen Festivals haben die meisten Filme aus Hollywood im Programm. Und die Metropole des kommerziellen Weltkinos ist mit der alljährlichen Oscar-Verleihung sowieso das mit Abstand wichtigste Schaufenster des englischsprachigen Mainstreamfilms.
Doch Cannes, Venedig und Los Angeles verfügen nicht über das breite Angebot der Berlinale. Neben dem Wettbewerb, der jedes Jahr mit Rotem Teppich und Bärenverleihung die größte Aufmerksamkeit auf sich zieht, findet in Berlin eigentlich noch eine Vielzahl anderer Festivals statt. Forum und Panorama sind Festivals im Festival, andernorts würden diese Veranstaltungen allen Stadtvätern kulturellen Ruhm eintragen. Die filmhistorische Retrospektive sucht weltweit ihresgleichen.
Engagiertes Weltkino aus allen Regionen
Damit kein Missverständnis aufkommt: All diese Veranstaltungen zeigen auch Qualitätskino. Viele herausragende Dokumentationen über historische Themen waren in den letzten Tagen in Berlin zu sehen. Spielfilme aus Ländern, die im normalen Kinoalltag in Deutschland kaum eine Rolle spielen. Politisches und sozial engagiertes Kino hat bei der Berlinale sowieso einen Stammplatz. Da kann der Wettbewerb um den Goldenen und die Silbernen Bären ruhig einmal schwächeln und jedes Jahr ein paar Filme mit durchs Programm schleppen, bei denen man sich fragt, warum gerade sie in dieser doch so wichtigen Sektion zu sehen sind.
Auch in diesem Jahr schüttelten wieder manche den Kopf, als der Goldene Bär nicht an den Publikums- und Kritikerliebling "Boyhood" ging. Doch auch der chinesische Sieger "Bai Ri Yan Huo" (Deutscher Titel: Schwarze Kohle - dünnes Eis) war ein würdiger Preisträger. Da hatte es in so manchem früheren Jahrgang Goldene Bären-Gewinner gegeben, an die sich heute keiner mehr erinnert.
Schwierige Entscheidungen für die Filmfans
Noch einmal gefragt: Bei welchem Festival auf der Welt hat der Besucher schon das Problem, ab morgens um halb neun bis weit nach Mitternacht fast stündlich mehrere Programmoptionen zur Auswahl zu haben? Soll er sich einen chinesischen Film anschauen oder doch lieber versuchen, in einen argentinischen Streifen zu gehen? Entscheidet man sich für einen Beitrag aus Burma oder lieber aus Südafrika? Lässt man für einen neuen deutschen Film das Frühstück sausen oder für ein kleines unabhängig produziertes Werk aus den USA den Mitternachtsschlaf? Manchmal sind diese Entscheidungen während der Berlinale das schwierigste überhaupt. Doch wer hätte sie nicht gern?
In Deutschland wird landauf- und landab viel über die Kultur in Zeiten sinkender Etats geklagt, der Kulturverfall überall beschworen. Die Berlinale ist ein leuchtendes Beispiel für ein glänzend organisiertes Kulturereignis mit Weltniveau. Mit einem Angebot, das für (fast) jeden etwas bereit hält.
Ein rüstiger Rentner
An der Schärfung der einzelnen Sektionen ließe sich einiges verbessern. Insbesondere der Wettbewerb könnte verschlankt und mit einer strengeren Auswahl künstlerisch gehaltvoller gemacht werden. Doch all das ist Kritik auf hohem Niveau. Im kommenden Jahr erreicht die Berlinale das Rentenalter und wird 65. Von Altersmüdigkeit ist nichts zu spüren. Einen solch rüstigen Rentner hat man selten gesehen.