Europas Wiederentdeckung
3. Februar 2013Die Europäer sind leidgeprüft. Regelmäßig mussten sie sich in der Vergangenheit Klagen anhören, wie uflexibel, uneinig und zunehmend irrelevant sie als Verbündeter für Washington seien. So nahm der frisch gewählte amerikanische Vizepräsident Joe Biden vor vier Jahren die Münchner Sicherheitskonferenz - das wichtigste inoffizielle transatlantische Gipfeltreffen - nicht etwa zum Anlass, eine Initiative zur Vertiefung und Erweiterung der europäisch-amerikanischen Beziehungen vorzuschlagen. Stattdessen verkündete er die Neuausrichtung des Verhältnisses zwischen Washington und Moskau - den sogenannten Reset. Europa, so die frühe und klare Botschaft der Obama-Regierung, ist nicht automatisch der bevorzugte Partner der USA in der Welt. Diese Haltung wurde in der ersten Amtszeit Obamas mehrmals bekräftigt, am prägnantesten durch den sogenannten Asia Pivot, also die Umorientierung der US-Außen- und Sicherheitspolitik auf Asien.
Auch in München bezeichnete Vizepräsident Biden die USA als pazifische und atlantische Macht. Alles andere wäre im Hinblick auf die wachsende Bedeutung des asiatisch-pazifischen Raums auch kurzsichtig. Gleichzeitig jedoch - und das war neu und wichtig - stellte Biden die Beziehung zu Europa aufs Podest: Die Europäer seien der erste und engste Verbündete der USA bei allen globalen Fragen. Europa, so der Vizepräsident, sei der Grundpfeiler für Amerikas Engagement in der Welt. So sollten Europäer und Amerikaner beispielsweise auch gemeinsam statt gegeneinander oder nebeneinander ihre Interessen in Asien vertreten.
Mehr als die sonst üblichen Floskeln
Nun könnte man daraus den Schluss ziehen, die Amerikaner wollten einfach etwas Balsam auf die geschundenen Seelen der Europäer streichen. Wohl wissend, dass die sich nach Anerkennung aus Washington sehnen, weil sie daraus - nicht ganz zu Unrecht - ihren globalen Status ableiten. Zwei Gründe sprechen jedoch dagegen: Zum einen haben die Amerikaner in der Vergangenheit stets die nach ihrer Einschätzung bestehenden Defizite der Europäer deutlich angesprochen, ohne besondere Rücksicht auf die Befindlichkeiten des Partners zu nehmen. Zum anderen hat Biden mit der Forderung nach einem transatlantischen Freihandelsabkommen eine konkrete Initiative vorgestellt und Washington hat auch schon hinter den Kulissen mit den Europäern darüber gesprochen.
Was aber löste den Gesinnungswandel der Obama-Admistration aus? Obama dürfte zu Beginn seiner zweiten Amtszeit kaum eine plötzliche emotionale Wandlung zum Atlantiker vollzogen haben. Wahrscheinlicher ist, dass sich die US-Regierung der wahren Bedeutung Europas für das Wohlergehen des eigenen Landes voll bewusst geworden ist. Asien und China sind wichtig für die USA - und werden immer wichtiger; aber Europa ist als größter Wirtschaftsraum der Welt für Washington - zumindest derzeit - noch wichtiger. Dies wurde den Amerikanern durch die anhaltende europäische Finanz- und Schuldenkrise vor Augen geführt, weil deren Folgen direkt auf die eng mit Europa verbundene US-Wirtschaft durchschlug.
Ironischerweise könnten wir es also Europas Schuldenkrise zu verdanken haben, wenn das transatlantische Verhältnis nach Jahren der Stagnation einen neuen Schub erhält. Dass der US-Vizepräsident die Bedeutung der amerikanisch-europäischen Beziehungen hervorhebt, dass Biden eine Konkretisierung durch ein transatlantisches Freihandelsabkommen vorschlägt - all das ist weit mehr als die sonst üblichen höflichen Floskeln. Es ist aber auch kein Selbstläufer. Die Wiederentdeckung Europas durch die USA ist eine gute Nachricht für Europa. Der alte Kontinent sollte sich darüber freuen.
Und dann zeigen, dass Biden Recht hat.