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Kommentar: EU-Flüchtlingspolitik - Ein Armutszeugnis

Ute Schaeffer8. Oktober 2013

Nach der Katastrophe vor Lampedusa haben die EU-Innenminister über die europäische Flüchtlingspolitik beraten - ohne Ergebnis. Damit haben sie die Chance für einen humanitären Neuanfang verschenkt, findet Ute Schaeffer.

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Politik und Realität haben manchmal wenig miteinander zu tun - das gilt auch für die Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa. Es ist ein unerträglicher Widerspruch: Während die Zahl der Flüchtlinge, die vor Europas Küste ertrunken sind, immer weiter ansteigt und allein bei dieser Katastrophe bisher mehr als 270 Tote geborgen wurden, belassen es die Politiker in den klimatisierten Konferenzräumen in Brüssel dabei, nichts zu beschließen. Das ist feige, das ist unmoralisch - und es ist kurzsichtig, denn Afrika und Europa trennen bei Lampedusa nur etwas mehr als 100 Kilometer Meer. Und das heißt: Morgen schon kann die nächste Katastrophe geschehen, und Europa nimmt es sehenden Auges hin.

Ute Schaeffer, Deutsche Welle, Chefredakteurin, Multimediadirektion Regionen (Foto: DW/Per Henriksen)
Ute Schaeffer, Chefredakteurin der Multimediadirektion Regionen der Deutsche WelleBild: DW

Armut, Krieg und Terror setzen Menschen in Bewegung

Es ist daran zu erinnern: Die Armut, vor der die Menschen fliehen, ist weder selbst gemacht noch selbst gewählt. Sie ist verursacht durch Korruption, Krieg und Terror. Und sie ist mit verursacht durch unsere europäischen Handelsschranken, unsere Zölle, unseren Konsum. Wer einmal bei den Afrikanern aus Nigeria oder dem Senegal war, die als "Illegale" in Marokko oder Libyen gestrandet sind, weiß, sie wollen nur eines: um jeden Preis auf ein Boot nach Europa. Und der weiß auch, wie verzweifelt diejenigen sind, die dann ein paar Wochen später vor Europas Küsten ohne Gesicht und ohne Namen ertrinken. "Glaubst Du, einer von uns würde aufbrechen, wenn wir zuhause für uns und unsere Familie eine Perspektive sähen?!", wird die Reporterin aus Deutschland gefragt. Nein, kaum einer würde aufbrechen.

Jeder ist sich selbst der Nächste

Da muss die Diskussion einsetzen. Und es wirkt fast zynisch, wenn der einzig fassbare Entschluss der EU-Minister nun ist, die Boote der europäischen Grenzschutztruppe Frontex noch weiter draußen im Mittelmeer - und damit vor den italienischen Landesgrenzen - einzusetzen. Wir tun so, als ob wir uns gegen Kriminelle oder gegen Piraten wehren müssten.

Diese Menschen haben verdient, dass wir unsere Asyl- und Flüchtlingspolitik gewissenhaft überprüfen. Doch niemand - auch Italien und Deutschland nicht - will in Europa ernsthaft über Konsequenzen aus dem Drama diskutieren. Immerhin, der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich hat Vorschläge gemacht: stärker gegen Schleuser zu kämpfen und die Lage in den afrikanischen Ländern zu verbessern. Doch statt an diesem Punkt konkreter zu werden, lenkt Deutschland schon wieder ab. Während täglich Nussschalen und Fischerboote im Mittelmeer sinken, stößt Friedrich eine Debatte über die Armutsmigration innerhalb der Europäischen Union an. Seht her, welche Lasten Deutschland schon schultert, mehr ist uns nicht zuzumuten! Das ist das Zeichen, das der Innenminister setzen will.

Armutszeugnis im reichsten Land Europas

Ja, als großes Land in Europa zählte Deutschland im vergangenen Jahr mehr als 70.000 Asylbewerber - und damit mehr als viele anderen Mitgliedsstaaten. Doch gemessen an seinen 80 Millionen Einwohnern liegt unser Land nur im europäischen Mittelfeld. Mutiger, menschlicher und entschlossener kommt Schweden seiner humanitären Verantwortung nach und trägt mit 4625 Asylbewerbern pro einer Million Einwohnern die größte Last. Deutschland hingegen, das sich lautstark gegen eine Änderung des Asylrechts wehrt, kommt nur auf einen Schnitt von 945 Flüchtlingen pro einer Million Einwohner. Und Italien, das in diesen Tagen zu große Belastungen bei der Flüchtlingspolitik beklagt, nimmt gerade einmal 260 auf. Jeder ist sich selbst der Nächste.

Und keiner wagt, eine neue, verantwortungsvollere und humanitäre Flüchtlingspolitik anzustoßen. Deutschland, die größte europäische Volkswirtschaft, das Land mit der geringsten Jugendarbeitslosigkeit, hat nicht einmal die Größe, angesichts der aktuellen Katastrophen - ob vor Italien oder in Syrien - durch eine einmalige und großzügige Geste mehr Flüchtlingen Schutz zu gewähren. Was für ein Armutszeugnis - für das reiche Deutschland!