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Kommentar: Kein Zug nach nirgendwo

Felix Steiner / Volker Wagener5. November 2014

Anderswo wartet man ewig am Bahnsteig, Deutsche machen schon fünf Minuten Verspätung nervös. Jetzt fährt über vier Tage lang gar kein Zug. Ist der Streik der Lokführer angemessen, fragen Volker Wagener und Felix Steiner?

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Wartende Familie am Bahnhof, Berlin, Oktober 2914 (Foto: picture alliance/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/L. Schulze

Deutschland und seine Eisenbahn, das ist ein Thema für sich. Für die Älteren waren es die Modelleisenbahnen: Loks aufs Gleis setzen, Weichen stellen, mit der Hand am Regler Personenzüge durch ein Liliputland fahren - da wurde das Kind im Mann lebendig, der die Welt endlich einmal nach seinen Regeln gestalten konnte. Die Leidenschaft für die Welt der Eisenbahn im Miniaturmaßstab war ein Wesenskern deutscher Männer der Nachkriegsgenerationen. Für die Jüngeren waren die Kinderbuchstars Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer Leitfiguren und Helden des Alltags. Kurz: Eine funktionierende Bahn gehört für uns Deutsche sozusagen zum Kerngeschäft.

Deutschlands Bahn ist zuverlässig!

Nicht umsonst erinnern wir uns heute an die sprichwörtliche Pünktlichkeit der Eisenbahn, auch wenn das längst Legende ist. Sie war eben zuverlässig und hatte mit ihren verbeamteten Schaffnern und Bahnwärtern in Uniform sogar etwas Autoritäres. Selbst Revolutionäre erlaubten sich nicht so ohne Weiteres, einen Bahnhof zu besetzen, ohne vorher eine Bahnsteigkarte zu lösen, soll Lenin über uns Deutsche gesagt haben. Deutschland verstehen, heißt auch das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Eisenbahn zu kennen. Ein Streik, noch dazu der längste der deutschen Bahngeschichte, ist deshalb der Ausnahmezustand. Also eine Entgleisung.

Eine Entgleisung, für die die Deutschen so gut wie kein Verständnis haben. Kein Wunder, denn in diesem Tarifkonflikt zwischen dem Arbeitgeber Deutsche Bahn und der Lokführer-Gewerkschaft GDL geht es längst nicht mehr nur um das Gehalt oder die Arbeitsbedingungen der Lokführer. Da hätten die sozial denkenden Deutschen ja noch Solidarität geübt. Nein - hier geht es allein um einen Machtkampf zwischen unterschiedlichen Gewerkschaften. Die kleine, nur 34.000 Mitglieder zählende Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer möchte ihren Vertretungsanspruch auch auf andere Berufsgruppen ausweiten. Und nimmt hierfür die gesamte deutsche Gesellschaft und auch die Unternehmen, die auf zuverlässigen Gütertransport angewiesen sind, in Geiselhaft. Das ist ärgerlich - zumal es bereits zum sechsten Mal innerhalb weniger Monate passiert.

Deutsche Welle, Volker Wagener (Foto: DW)
DW-Redakteur Volker WagenerBild: DW

Streikfreie Zone Deutschland

Andererseits - was heißt schon "der längste Streik in der Geschichte der Deutschen Bahn"? Wir reden über vier Tage! Die Aufregung in den sozialen Netzwerken sowie die reißerischen Schlagzeilen in den Medien von "Chaos" und "lahmgelegtem Deutschland" erklären sich allein dadurch, dass Streiks hier so selten sind wie Schneefall im Sommer. Deutschland ist der Inbegriff von Streikarmut. In Europa tobt der Arbeitskampf vor allem in Griechenland, Italien, Frankreich, Spanien. Insbesondere seit den globalen Finanzkrisen 2008. In England waren die gesamten 1970er Jahre eine Ära des permanenten Arbeitskampfes.

Deutschland hingegen ist ein Musterbeispiel für die soziale Balance. Zumeist werden Konfliktlösungen zwischen den Tarifparteien gefunden, bevor es zu Streiks als letzter Option kommt. Vor diesem Hintergrund den Lokführerstreik in die Nähe von chaotischen Verhältnissen zu reden, ist paranoid. Und selbst im Arbeitskampf sind die Spielregeln klar: rechtzeitige Ankündigung, Notfahrpläne der Bahn. Auch wenn die meisten Züge jetzt schon wieder auf den Abstellgleisen bleiben, sollten wir die Kirche im Dorf lassen: Vier Tage Zugausfall sind ärgerlich, aber kein Drama. Und wer ganz dringend reisen muss, der sollte in einem 80-Millionen-Einwohner-Land mit fast 44 Millionen angemeldeten Autos auch eine alternative Reisemöglichkeit finden können.

Deutsche Welle, Felix Steiner (Foto: DW)
DW-Redakteur Felix SteinerBild: DW/M.Müller

Ein Gewerkschaftschef als Feindbild

Der Tarifkonflikt zwischen Deutscher Bahn und Lokführer-Gewerkschaft wird sich lösen, wie alle anderen vor ihm auch. Variante 1: Irgendwann werden der Bahn die streikbedingten Verluste zu hoch und sie gibt nach. Variante 2: Die Gewerkschaft gibt nach, wenn ihre Streikkasse leer ist oder sie jede öffentliche Sympathie verliert. Die Frage ist, was zuerst passiert. Derzeit sieht es nach Variante 2 aus, aufgrund des Verlusts jeder öffentlichen Sympathie. Denn Claus Weselsky, der Gewerkschaftschef der Lokführer, wird pünktlich zum Jubiläumswochenende "25 Jahre Mauerfall" zum neuen gesamtdeutschen Feindbild hochstilisiert. Ob der Ostdeutsche Weselsky soviel Einheit ertragen kann?