Kommentar: Sanierungsfall Deutschland
23. Juni 2006Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ein hartes Wort gelassen ausgesprochen. Ein "Sanierungsfall" sei Deutschland, hat die Kanzlerin gesagt. Die Haushaltslage sei "so desolat, wie man sich das kaum vorstellen kann". In der Tat: Beim Bund, den Ländern und Gemeinden sind die Ausgaben bereits im Normalfall um rund 60 Milliarden Euro höher als die Einnahmen.
Finanzielle "Erblast"
Der über die Jahrzehnte angehäufe gesamtstaatliche Schuldenberg beläuft sich auf rund 1500 Milliarden Euro, eine Summe unvorstellbaren Ausmaßes. Der Zinsaufwand des Bundes entspricht in etwa der für dieses Jahr geplanten Netto-Neuverschuldung von 38,2 Milliarden Euro. Das heißt: Ohne die Schuldenlast wäre der Bundeshaushaltaushalt ohne Kreditaufnahme ausgeglichen; es sind die Schulden, die auf den Etat drücken.
Deutschland ist auf dem Weg in die Schuldenfalle. Die Situation ist in der Tat dramatisch. Die Bundeskanzlerin weist der Vorgängerregierung dafür die Schuld zu; das entspricht der Argumentation ihres Amtsvorgängers. Die Argumentationskette ließe sich weiter verlängern; schon Helmut Kohl wurde bei seinem Amtsantritt Anfang der 1980er-Jahre nicht müde, die finanzielle "Erblast" zu beklagen. Argumentativ funktioniert die Politik als ein System der organisierten Unverantwortlichkeit. Doch das hilft nicht weiter.
Verfassungswidrige Neuschulden
Die Große Koalition muß sich fragen lassen, warum sie die lange überfällige Sanierung der Staatsfinanzen nicht heute bewerkstelligt, sondern wieder in die Zukunft verlagert. Gerade diese Regierung sollte dazu mit ihrer großen Mehrheit im Bundestag und in der Ländervertretung Bundesrat in der Lage sein, zumal derzeit - beflügelt durch die Konjunktur - die Steuerquellen sprudeln wie schon lange nicht mehr.
Dennoch wird weiter Politik zu Lasten der Zukunftsfähigkeit des Landes und vor allem auf Kosten der Kinder und Enkel der heutigen Generation gemacht. Die Kreditaufnahme übersteigt die Investitionen um 15 Milliarden Euro, was das Grundgesetz ausdrücklich untersagt.
Die vom Bundesfinanzminister erklärte Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ist ist angesichts der konjunkturellen Situation und der stark steigenden Steuereinnahmen wenig überzeugend. Das gilt auch für das Versprechen, im kommenden Jahr werde alles besser. Die Verschuldungsgrenze des Grundgesetzes soll ebenso eingehalten werden wie das Defizitkriterium des europäischen Stabilitätspaktes. Doch das gelingt nur durch die größte Steuererhöhung seit Bestehen der Bundesrepublik.
Zu hohe Staatsausgaben
Dabei ist Deutschland keineswegs ein Sanierungsfall. Deutschland ist Exportweltmeister; die Wirtschaft befindet sich wieder auf Wachstumskurs; die Steuerquellen sprudeln kräftig. Deutschland verfügt über eine der leistungsfähigsten und innovativsten Volkswirtschaften weltweit, über einen hohen Lebensstandard, eine vorzügliche Infrastruktur. Wohl aber ist der Bundeshaushalt ebenso sanierungsbedürftig wie das staatliche Sozialsystem.
Durch jahrzehntelange Fehlsteuerung des Arbeitsmarktes, zu spät oder nur halbherzig vorgenommener Reformen auch in den anderen Zweigen des Sozialsystems sowie durch die Fehlfinanzierung der deutschen Einheit sind die Staatsschulden geradezu explodiert. Die Zinsverpflichtungen sind zum zweitgrößten Ausgabenblock des Bundeshaushalts aufgestiegen. Es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass dieses Land bei den Staatsausgaben deutlich über seine Verhältnisse lebt.
Aufgabe der Politik ist es, aus dieser Erkenntnis Konsequenzen zu ziehen. Genau daran mangelt es.