"Ach herrje!", möchte man ausrufen und dazu die Hände verzweifelt ringen oder auch den Kopf ungläubig schütteln, ob des platten Unvermögens von 28 Staats- und Regierungschefs und vier Fraktionschefs im Europäischen Parlament, klare Personalentscheidungen zu treffen. Vier Wochen ist die Europawahl jetzt her. Dutzende Sondierungsgespräche im Parlament und zwei EU-Gipfel sind bereits ins Land gegangen - ohne greifbares Ergebnis.
Dabei liegt der Fall doch klar auf der Hand: Den Wählerinnen und Wählern wurde suggeriert, sie würden neben den Abgeordneten indirekt auch den neuen Chef der EU-Kommission bestimmen. Einer der "Spitzenkandidaten" der Parteifamilien sollte es sein. Doch plötzlich entdecken die Strippenzieher im Parlament und auch im Europäischen Rat, dass das mit den Spitzenkandidaten doch nicht so ernst gemeint war. Logischerweise hätte der Spitzenkandidat der größten Fraktion Anspruch darauf, für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten vorgeschlagen zu werden. Doch das wird jetzt mit allen möglichen Argumenten umgangen. Die Wählerinnen und Wähler müssen sich verschaukelt fühlen.
"Geht's noch?" müssen wir uns fragen. Gerade wurde noch erklärt, die europäische Demokratie sei ja so wichtig und müsse vor dem Zugriff der Rechtspopulisten gerettet werden. Kaum ist die Wahl vorbei, wird die demokratische Entscheidung von 200 Millionen Menschen, die an die Urnen gegangen sind, schon wieder verwässert, relativiert, umgedeutet. So stößt man Wählerinnen und Wähler vor den Kopf und liefert EU-Skeptikern und EU-Gegnern wunderbare Argumente auf einem Silbertablett.
Wenn die Parlamentarier und Regierungschefs, die ja auch alle Parteipolitiker sind, vom Spitzenkandidaten-Modell nichts halten, dann müssen sie das vorher und nicht nach der Wahl klar sagen. Wenn sie Manfred Weber für den falschen, weil unqualifizierten Kandidaten halten, dann hätten sie den Christdemokraten besser gar nicht erst aufstellen sollen. Die Defizite des zu unerfahrenen, uncharismatischen Weber sind ja nicht erst seit heute bekannt. Jetzt heißt es aber: Es ist zu spät. Gewählt ist gewählt.
Fehler wiederholt
Besonders skurril an dem Postengeschacher in Brüssel ist seine Wiederholung. Vor fünf Jahren, als der Spitzenkandidat und Wahlsieger Jean-Claude Juncker Anspruch auf den Chefsessel der EU-Kommission erheben konnte, bockte plötzlich die Bundeskanzlerin Angela Merkel. Nur durch öffentlichen Druck in Deutschland schwenkte Merkel um und stimmte Junckers Wahl schließlich zu. Haben die EU-Staats- und Regierungschefs aus dem Showdown von damals nichts dazugelernt? Offenbar nicht viel. Hauptgegner ist wohl im Moment der französische Präsident Emmanuel Macron.
Natürlich ist die Gemengelage diesmal noch komplizierter, weil die Mehrheitsverhältnisse im Parlament noch schwieriger sind und die liberale Fraktion das Spitzendkandidaten-Modell plötzlich ablehnt. Doch das heißt nicht, dass man sich insgesamt als EU nicht an die Zusagen aus dem Wahlkampf halten muss.
Jetzt also haben die Damen und Herren der ratlosen Gipfelrunde ein drittes Treffen am übernächsten Wochenende anberaumt. Bis dahin werden sie sich hoffentlich auf die demokratischen Spielregeln besinnen, die man nach der Wahl nicht einfach ändern kann. Manfred Weber ist sicher nicht der beste Kandidat für den Posten des EU-Kommissionspräsidenten, aber er ist nun einmal der Kandidat der größten Fraktion. Parlamentsfraktionen und Europäischer Rat müssen dem Votum der Wählerinnen und Wähler folgen, sonst verlieren sie jede Glaubwürdigkeit.
Und das kann man sich nun wirklich nicht leisten. Schon deshalb nicht, weil noch wichtigere Probleme als das Personal der Entscheidung harren: Klimaschutz, Migration, digitale Arbeitswelt, Handelskonflikte, langfristiger Haushalt, um nur ein paar zu nennen.