Eine "Merkel cum laude"
Ein Klirren, Scherben, womöglich ein paar Schnittwunden: In der Realität ist es kein schöner Anblick, wenn eine Frau durch eine Glasdecke bricht. Ein Scherbenhaufen und eine Menge Kratzer, mehr ist von der Metapher nicht übrig, einen Tag nachdem Ursula von der Leyens als erste Frau für die Spitze der Europäischen Kommission nominiert wurde.
Durchgedrückt als Kompromiss, entgegen der Kritik, ob sie das denn überhaupt kann. Kaum anders stand Angela Merkel 2005 da, an jenem legendären Wahlabend, als ein aufgebrachter Ex-Kanzler bat, doch bitte auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben: Angela Merkel als Kanzlerin? Unmöglich! Trotzdem passiert.
Eine Frau, eine Deutsche, aber keine Spitzenkandidatin bei den Europawahlen als Präsidentin der EU-Kommission zu nominieren? Unmöglich, undemokratisch, unwahrscheinlich beim Europäischen Parlament durchzubringen. Trotzdem passiert. Von der Leyen war schlichtweg der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich Europas Regierende einigen konnten.
Was sich in Berlin bewährt, funktioniert auch in Brüssel
Pragmatisch zwischen Extremen vermitteln - das ist das Kerngeschäft der EU. Keine bewegt sich in nächtelangen Verhandlungen so zielsicherer über den blank gewienerten Boden des EU-Ratsgebäudes wie Bundeskanzlerin Angela Merkel. Und was sich in Berlin bewährt, funktioniert auch in Brüssel oft. Deutschland mit der EU gleichzusetzen, würde sich in Europa niemand trauen. Dabei sind die Ähnlichkeiten verblüffend:
Eine politische Landschaft, die liberal-konservativ und grün im Westen ist, aber in deren Osten EU-kritische Nationalisten aufmarschieren. Mit einem Parlament, in dem Volksparteien schwächer, Rechtspopulisten, Grüne und Liberale stärker und Debatten damit pluralistischer werden.
Berlin wie Brüssel sind zerrissen darüber, wie man Migration, Klimakrise und die wachsenden Spannungen zwischen China und den USA handhaben will. Deutschland pflegt eine pazifistische Tradition, aber mit Realitätssinn für die wachsende Aggression Russlands im Osten Europas. Ähnliche Debatten führt auch die NATO in Brüssel.
Von der Leyen sitzt seit 14 Jahren in Merkels Kabinett
Kein wichtiges Thema in Brüssel wurde nicht schon in ähnlicher Weise an Merkels Kabinettstisch diskutiert. Ursula von der Leyen hat als Einzige, die von Beginn an mit dabei war, nach 14 Jahren Stühlerücken dort noch einen Sitzplatz, zuletzt als Verteidigungsministerin. Ein Stuhl, der als Schleudersitz in der deutschen Politik gilt. Von der Leyen bewies Sitzfleisch und Wendigkeit zugleich. Schlug Schlachten mit der ihr unterstehenden Bundeswehr über Tradition und politische Haltung einer Armee im demokratischen Deutschland und focht mit den USA Psychokriege über den NATO-Etat aus; machte sich nebenher bei Chinas Militärführung und allen sicherheitspolitischen Foren weltweit vorstellig.
Das schafft nur eine überzeugte Europäerin mit von demokratischen Prinzipien unterfütterten Visionen, für die man nicht gleich zum Arzt geschickt wird. Eine vom christlichen Glauben und der Geschichte geprägte Wissenschaftlerin, die gelernt hat mit Geduld, Pragmatismus und Verhandlungsgeschick an ellenlangen Reihen dunkelgrauer Männersakkos vorbeizuziehen. Eine, die Angela Merkel in vielem verblüffend ähnlich ist.
Weil Merkel Annegret Kramp-Karrenbauer zu ihrer Wunsch-Nachfolgerin für Berlin kürte, ist Brüssel für von der Leyen der logische Schritt. Hier kann sie aus Merkels Schatten treten, die Schülerin zur Meisterin werden. Alles Wichtige hierfür hat sie von Angela Merkel gelernt. Auch das: Wenn die Glasdecke kracht und man zerkratzt vor den Scherben steht, gibt's nur eins - Aufkehren und Pflaster drauf. Tief durchatmen. Und dann weitermachen. Auch in Brüssel ist die Luft ganz oben dünn.