Von der Leyen muss einige Hürden nehmen
3. Juli 2019Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben auf dem längsten Sondergipfel der EU-Geschichte zwar die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen für das Amt der EU-Kommissionspräsidentin nominiert, aber der Chefsessel ist ihr noch nicht sicher. An diesem Mittwoch begann der Hürdenlauf der CDU-Politikerin auf dem Weg ins Berlaymont-Gebäude, dem Sitz der Kommission in Brüssel.
1. Hürde: Antrittsbesuch
Ursula von der Leyen erschien am Dienstagnachmittag in Straßburg, wo das Parlament zu seiner ersten Sitzungswoche nach der Europawahl Ende Mai zusammengetreten ist. Auf Einladung der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) hat sie für die überraschende Kandidatur erst einmal bei den Abgeordneten der eigenen Parteienfamilie geworben. Viele Europaparlamentarier kennen weder von der Leyen persönlich noch ihre europapolitischen Ansichten.
2. Hürde: Werbung
Von der Leyen, die zuletzt im Berliner Kabinett wegen zahlreicher Mängel bei der Bundeswehr keine glückliche Figur abgab, muss bei anderen Fraktionen im Europäischen Parlament um Zustimmung werben. Sie braucht mindestens die Stimmen der Sozialdemokraten und der Liberalen, um die erforderliche Mehrheit zu erreichen.
3. Hürde: Widerstand beim eigenen deutschen Koalitionspartner SPD
Die frisch gewählte Europaabgeordnete Katarina Barley, die bis vor Kurzem als Bundesjustizministerin noch am gleichen Kabinettstisch mit Frau von der Leyen saß, hat ihre Ablehnung angekündigt. Sie sagte der Deutschen Welle: "Es geht nicht um die Person, sondern um das ganze Paket, das wir nicht akzeptieren können." Es könne nicht sein, dass die Staats- und Regierungschefs, das Spitzenkandidaten-Prinzip einfach ignorieren. "Viele in meiner Fraktion werden gegen Ursula von der Leyen stimmen", kündigte die SPD-Politikerin an.
4. Hürde: Ablehnung der Grünen
Die Fraktion der Grünen wird das Personalpaket mit Ursula von der Leyen auf dem wichtigsten Posten ablehnen. Das kündigte deren Vorsitzende, die deutsche Abgeordnete Franziska Keller an. Rein rechnerisch würden die Stimmen der Grünen für eine Wahl Ursula von der Leyens zur Kommissionspräsidentin nicht gebraucht, aber um nicht auf die Stimmen von Rechtspopulisten oder Europa-Skeptikern angewiesen zu sein, wären zumindest einige Stimmen aus dem grünen Lager hilfreich.
Unmut herrscht bei manchen Abgeordneten auch, weil die vier Visegrad-Staaten und Italien den niederländischen Sozialdemokraten Frans Timmermans als Kommissionspräsidenten abgelehnt hatten - aufgrund der Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn, die er als zuständiger EU-Kommissar angestoßen hatte. Da Ursula von der Leyen auf das Wohlwollen der genannten Staaten trifft, mutmaßen manche, dass sie bei der Rechtsstaatlichkeit jetzt ein Auge zudrücken solle.
5. Hürde: Regionales Gleichgewicht
Nachdem das Parlament nicht, wie von den Staats- und Regierungschefs angeregt, einen bulgarischen, sondern einen italienischen Abgeordneten zum Parlamentspräsidenten gewählt hat, könnten osteuropäische Abgeordnete enttäuscht sein. Die jüngeren Mitgliedsstaaten in Mittel- und Osteuropa sind auf keinen der fünf zu vergebenen Posten vertreten. Das könnte dazu führen, dass einige Abgeordnete, auch aus dem christdemokratischen Lager, gegen von der Leyen stimmen.
6. und größte Hürde: Votum im Plenum
Voraussichtlich am 16. Juli werden die Abgeordneten in Straßburg über die neue Chefin der mächtigen Europäischen Kommission abstimmen. Ursula von der Leyen bräuchte nach den EU-Verträgen die "Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments". Das sind theoretisch 376 Stimmen, da das Parlament 751 Sitze hat.
Zur Zeit sind aber nicht alle Sitze besetzt, weil einige Abgeordnete ihre Mandate nicht angetreten haben. An diesem Dienstag liegt die Zahl der Sitze deshalb bei 746. Die erforderliche Mehrheit wären demnach 374 Stimmen. Es kann aber durchaus sein, dass bis Mitte Juli noch Abgeordnete hinzukommen, teilte die Pressestelle des Parlaments mit.
Die EVP (182), die Sozialdemokraten (151) und die Liberalen (108) würden zusammen mit 441 Stimmen leicht über die erforderliche Mehrheit verfügen. Unklar ist aber, wie die Abgeordneten in der geheimen Wahl wirklich abstimmen werden.
Bei der Wahl des derzeitigen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker vor fünf Jahren, die nicht so umstritten war wie der Wettbewerb in diesem Jahr, war das Ergebnis auch relativ knapp. Juncker kam auf 422 Stimmen, 46 mehr als nötig.
Juncker sagte zu von der Leyens Werbetour im Parlament: "Das wird nicht einfach." Und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel bemerkte, im Parlament werde man "kämpfen" müssen.
Sollte Ursula von der Leyen die Mehrheit der Abgeordneten nicht hinter sich bringen, müssten die Staats- und Regierungschefs innerhalb von vier Wochen dem Europäischen Parlament einen neuen Kandidaten vorschlagen. Diesen Fall hat es bisher allerdings noch nie gegeben. Er würde die Institutionen der EU sicherlich in eine schwere Krise stürzen.
Eine Deutsche: Vorteil oder Nachteil?
Die Rückendeckung der deutschen Bundesregierung für die Kandidatin ist schwach. Ausgerechnet die deutsche Kanzlerin musste sich als einzige in der Abstimmung im Europäischen Rat enthalten, weil ihr Koalitionspartner SPD nicht mitspielte. Der französische Präsident Emmanuel Macron soll die deutsche Kandidatin schließlich vorgeschlagen haben, auch zur Überraschung von Merkel selbst, heißt es von Diplomaten.
Die niederländische Zeitung "De Volkskrant" sieht die Bundeskanzlerin als Verliererin des Personalpokers in Brüssel: "Es war nicht ihre Wahl. Es war ein kleines Geschenk von Herrn Macron."
Die von Bundeskanzlerin Merkel ins Spiel gebrachte Freude, dass zum ersten Mal seit Ende der 1960er Jahre eine Deutsche das hohe Amt in der EU bekleiden soll, hat zwei Schönheitsfehler.
Zum einen spielt die Staatsangehörigkeit in der EU-Kommission eigentlich keine Rolle. Die supra-nationale Behörde empfängt keine Weisungen und ist von den nationalen Hauptstädten ausdrücklich unabhängig. So steht es in den EU-Verträgen. Auch von der Leyen wäre also keine deutsche Botschafterin, die Berliner Interessen vertreten könnte.
Zum anderen war Walter Hallstein, der erste Deutsche in einem EU-Spitzenamt, historisch gesehen nicht Präsident der EU-Kommission, sondern Chef der "Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft". Die EU-Kommission, wie wir sie heute kennen, wurde erst nach Hallsteins nicht ganz freiwilligem Abgang im Jahr 1967 geschaffen.