Korsika - eine lange Geschichte der Rebellion
18. März 2022Mitte der Woche fuhr Frankreichs Innenminister Gerald Darmanin schließlich nach Korsika, um die aufgeheizte Situation auf der französischen Mittelmeerinsel zu beruhigen. Seit dem Angriff auf den früheren Nationalistenführer Yvan Colonna am 2. März in einem Gefängnis in Arles ist die Insel wieder in Aufruhr. Colonna sitzt eine lebenslange Haftstrafe ab, weil ihm der 1998 begangene Mord an Gouverneur Claude Erignac zur Last gelegt wurde. Seit einem Anschlag durch einen Islamisten liegt Colonna im Koma. Und damit ist man mitten in der von Rebellion und Widerstand gegen die Zentralregierung in Paris geprägten Geschichte der Insel.
Wechselnde Herrscher und viel Vernachlässigung
Korsika wird auch die "Insel der Schönheit" genannt - wegen der Strände und eindrucksvollen Landschaften. Aber das ist der Blick auf Korsika für die Tourismusindustrie. Denn die wechselhafte Geschichte der Insel wird geprägt vom Geist eines Separatismus, der sich aus der Vernachlässigung durch wechselnde Herrscher im Lauf der Jahrhunderte und anhaltende Armut speist.
Vielleicht war es der jahrelange bittere Kampf gegen die französische Armee im 18. Jahrhundert, der den Geist des Widerstandes auf Korsika hervorbrachte. 1769 verkaufte der bankrotte italienische Stadtstaat Genua die Insel an Frankreich, nachdem sie seit dem Mittelalter zu Italien gehört hatte. Die neuen Besetzer beendeten damit ein paar Jahre der Selbstherrschaft, als die Insel eine kurze Phase von wirtschaftlicher Blüte und kultureller Entwicklung erlebt hatte. Die Bewohner lehnten sich gegen die Franzosen auf, es gab ein kurzes Zwischenspiel unter britischer Herrschaft und seit 1811 gehört Korsika als Departement zu Frankreich.
Im 19. Jahrhundert folgte eine lange Periode des ökonomischen Niedergangs: Korsika fiel auf das Niveau von agrarischer Subsistenzwirtschaft und die Schafzucht zurück. In dieser Phase wanderten viele Bewohner der Insel in die USA aus oder in französische Übersee-Kolonien. Berühmtester Sohn Korsikas ist übrigens Napoleon Bonaparte, der Kriegsherr und spätere Herrscher, der den strengen Zentralismus des französischen Staates entwickelte und perfektionierte. Der verurteilte Attentäter Yvan Colonna hatte sein Leben als Schäfer in einer kleinen korsischen Küstenstadt begonnen, bevor er zum Helden der militanten Nationalistenbewegung wurde.
Exportartikel korsische Mafia
Als einen der erfolgreichsten Exportartikel der Mittelmeerinsel im 20. Jahrhundert könnte man die korsische Mafia betrachten. Die ärmste Region Frankreichs, wo ein Fünftel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt, ist seit vielen Jahrzehnten ein Hort der organisierten Kriminalität. Hier fanden Filmemacher über Generationen hinweg Inspiration.
Die Ursprünge reichen weit zurück. In den 1920er-Jahren waren erste Verbindungen zwischen der korsischen Mafia und der französischen Politik entstanden. Vor allem im Süden spielten ihre Vertreter auf lokaler Ebene eine Rolle, etwa im Rathaus von Marseilles. Während der deutschen Besetzung Frankreichs spalteten sich die korsischen Clans zwischen Unterstützern der Nationalsozialisten und Helfern des Widerstandes. Aus deren Reihen stiegen dann in der Nachkriegsgeschichte Männer auf, die sowohl mit der kriminellen Unterwelt als auch mit der Politik Frankreichs verbunden waren.
Dreimal so viele Morde wie im Großraum Paris
Fabrice Rizzoli vom Pariser Institut für Politische Wissenschaft glaubt, dass die Existenz der korsischen Mafia und ihr weitreichender Einfluss zu lange verleugnet wurde. Erst als die Polizei 2010 den in Korsika und Marseille agierenden Barresi-Campanella Clan auf einer Jacht verhaftete, sei der Beweis für die Existenz einer "mafia-artigen Organisation mit hierarchischer Struktur und Verbindungen zu Wirtschaft und Gesellschaft" erbracht worden.
Sie verdiente ihr Geld mit Korruption, Geldwäsche und anderen kriminellen Aktivitäten. Und weil französische Regierungen jahrzehntelang durch die militante Unabhängigkeitsbewegung eingeschüchtert waren, hätten sie den Kampf gegen die korsische Mafia nie ernsthaft aufgenommen, sagt Rizzoli im Gespräch mit dem italienischen Magazin für Sozialforschung L‘Eurispes.
Die Folge ist, dass Korsika seit langem eine der höchsten Mordraten Frankreichs hat. Hier werden dreimal so viele Menschen umgebracht wie im Großraum Paris - darunter in den letzten Jahren vier Bürgermeister. Traditionell hat die korsische Mafia ihre Finger in Bauvorhaben, Immobiliengeschäften und der Abfallwirtschaft, ganz ähnlich wie die italienischen Clans, zu denen die Korsen traditionelle Verbindungen unterhalten. Schutzgelderpressung, Brandanschläge und Morde haben inzwischen auch in Korsika Bürgerinitiativen auf den Plan gerufen, die sich dem Kampf gegen die Mafia verschreiben.
Die Jahre des militanten Widerstands
Zusätzlich entwickelten sich in den 1970er-Jahren eine Nationalistenbewegung und verschiedene Separatistengruppen, die sich dem Kampf gegen die Zentralregierung in Paris verschrieben hatten. Seit ihrem Entstehen hatten verschiedene Gruppen immer wieder aufflackernde Unruhen angestachelt, die von der Polizei niedergeschlagen wurden. Der Mord an Gouverneur Claude Erignac 1998 aber markierte den "Schwanengesang von Korsikas militanter, geheimer Nationalistenbewegung", sagt Korsika-Kennerin und Buchautorin Hélène Constanty im Interview mit dem Sender France 24.
Gut zwanzig Jahre später also "erlebten die bewaffneten Separatisten einen Niedergang und wurden gleichzeitig durch interne Kämpfe geschwächt". Die politische Splittergruppe, die für den Mord an dem Gouverneur verantwortlich war, hatte auf ein Wiedererstarken des bewaffneten Kampfes gehofft, aber das Gegenteil erreicht, sagt Costanty.
Bei den damaligen Polizeiaktionen waren viele der militanten Kämpfer verhaftet worden, aus deren Reihen dann Yvan Colonna als Todesschütze im Fall Erignac identifiziert wurde. Er konnte sich damals fast fünf Jahre lang vor der französischen Polizei verstecken und wurde eine Art Volksheld. Der beinahe tödliche Anschlag auf Colonna in einem Gefängnis auf dem französischen Festland aber belebte die Erinnerung an die militante Unabhängigkeitsbewegung der Insel wieder. Eine neue Generation von Demonstranten, die Frankreich mit Unterdrückung gleichsetzt, warf Brandbomben gegen Regierungsgebäude und lieferte sich Straßenschlachten mit der Polizei.
Dahinter liegt eine eine anhaltende politische Frustration auf der Insel. Obwohl seit den letzten Wahlen nationalistische Parteien die korsische Politik dominieren, haben auch sie nicht zur Verbesserung der Infrastruktur oder zur Senkung der hohen Jugendarbeitslosigkeit beigetragen.
Der Innenminister und das A-Wort
Im zentralistisch regierten Frankreich gehört regionale Autonomie nicht zum Programm. Jetzt aber führte Gerald Darmanin in einer Lokalzeitung das A-Wort in die Debatte ein. Mehrere Präsidentschaftskandidaten seien für einen institutionellen Wandel für Korsika, sagte der Innenminister. "Wir sind bereit, bis zur Autonomie zu gehen". Wobei er mit "wir" die Regierung von Emmanuel Macron meint, der auf eine Wiederwahl im April hofft.
Korsika genießt schon jetzt ein höheres Maß an Unabhängigkeit als andere Regionen in Frankreich, etwa in der Schul-, Gesundheits- oder Verkehrspolitik. Aber ein Teil der militanten Nationalisten auf der Insel wollen die volle Abspaltung vom Mutterland, während andere zumindest eine unabhängige Untersuchung des Anschlags gegen Yvan Colonna verlangen und noch mehr regionale Unabhängigkeit.
Der Innenminister verspricht, die Gespräche darüber könnten in der zweiten Amtszeit von Präsident Macron geführt werden. Seine Regierung hofft auf einen vorübergehenden Burgfrieden und darauf, die Lösung des Korsika-Problems auf die Zeit nach den Wahlen zu vertagen.