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Krank durch Migration?

Anna Peters7. März 2013

Verlust der alten Heimat, Identitätsprobleme, Depression: Migranten haben es nicht immer leicht in ihrer neuen Wahlheimat Deutschland. Im schlimmsten Fall kann die seelische Belastung zur psychischen Erkrankung führen.

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Symbolbild zu "Außenseiter, Einsamkeit" (Bild: Fotolia/ lassedesignen)
Bild: Fotolia/ lassedesignen

Mit Anfang 20 entwickelte Sara B. (Name von der Redaktion geändert) eine schwere Depression. Mit Mühe kam die heute 27-jährige Studentin morgens aus dem Bett. Alles war ihr plötzlich gleichgültig, sie war schwermütig und lustlos. Dann suchte sie Hilfe bei einem Therapeuten und beschäftigte sich intensiv mit ihrem Leben und ihrer Identität.

Saras Eltern sind beide Marokkaner. Ihr Vater kam Anfang der 1970er Jahre nach Deutschland. Damals lockte ihn die Arbeit. Er träumte von einem wirtschaftlich besseren Leben für sich und seine Familie.

Saras Mutter, die ihrem Mann als 19-Jährige ins fremde Deutschland folgte, fühlte sich damals wegen ihrer schlechten Deutschkenntnisse oft schikaniert und ausgegrenzt. Die Folge: Bei Saras Mutter manifestierte sich eine grundlegende Angst, wie sie viele Migranten der sogenannten Gastarbeiterzeit entwickelt haben.

Arif Ünal hat sich mit den Ursachen beschäftigt: "Die Gastarbeiter konnten kein Deutsch, kulturell hatten sie überhaupt keine Informationen über Deutschland bekommen. Und das hat sie sehr unter Druck gesetzt. Manche haben nicht einmal eine rote Ampel überquert. Sie haben so peinlich auf alles geachtet, damit sie überhaupt keine Fehler machen." Ünal, als Grünen-Politiker im Landtag Nordrhein-Westfalens tätig, leitet hauptberuflich in Köln das "Sozialpsychiatrische Kompetenzzentrum Migration", welches sich zum Ziel gesetzt hat, die psychiatrische Gesundheitsversorgung von Migranten zu verbessern. Geschichten, wie die von Saras Mutter, hört er hier tagtäglich.

Arif Ünal (Grüne), Landtagsabgeordneter und Leiter des Sozialpyschiatrischen Kompetenzzentrums Migration. (Foto: Grünen Landtagsfraktion NRW)
Arif Ünal, Leiter des Sozialpyschiatrischen Kompetenzzentrum Migration in KölnBild: Grüne Landtagsfraktion NRW

Zwanghaftes Verhalten kann Folge von Migration sein

Saras Mutter entwickelte in den letzten 40 Jahren einen zunehmenden Waschzwang. Für sie muss alles rein sein. Berührt sie ihre Schuhe, müssen die Hände sofort gewaschen werden. Vom vielen Händewaschen ist ihre Haut trocken, rissig und blutig. Woher dieser Zwang kommt? "Ich glaube, sie hat Angst vor dem Vorurteil des 'dreckigen Ausländers' und ist daher umso reinlicher", vermutet Tochter Sara.

Zwanghaftes Verhalten, wie das von Saras Mutter, kann eine typische Folge von Migration sein, weiß Arif Ünal: "Migration macht nicht automatisch krank, aber wenn andere Dispositionen vorhanden sind, kann Migration ein krankmachender Faktor sein", sagt der Grünen-Politiker.

Saras Familie muss mit Rassismus und Vorurteilen immer wieder klar kommen. Ihr Wohnort gilt als Hochburg der Neonazis im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Einmal im Jahr marschieren die Rechtsextremen im Ort auf. Zur Sicherheit verschanzt sich Saras Familie dann im Haus. Für Sara genauso schwer zu ertragen, ist der ganz alltägliche Rassismus, der viel subtiler ist – in der Schule, zum Beispiel. Fehler, die sie als Grundschülerin machte, hob ihre Lehrerin immer mit offener Schadenfreude vor der gesamten Klasse hervor. Sara fühlte sich vor den anderen Kindern bloß gestellt.

Auf einem Klassenausflug im Wald vergaß ihre Lehrerin, dass Sara als Muslimin kein Schweinefleisch essen darf. Zum Abendbrot kochte ihre Lehrerin dennoch eine Suppe mit Wiener Würstchen. So sehr ihr Magen auch knurrte, Sara verzichtete auf ihr Essen. Ob ihre Lehrerin sie absichtlich vergessen hatte oder ihr einfach nur die interkulturelle Sensibilität fehlte, kann die Studentin nur schwer beurteilen.

"Bin ich deutsch? Bin ich marokkanisch? Bin ich Deutsch-Marokkanerin?"

Fakt ist, Sara fühlte sich als einzige Muslimin in ihrer Klasse immer wieder ausgrenzt. Sie begleitete stets das Gefühl nirgendwo richtig dazuzugehören: "Hier in Deutschland bin ich immer die Marokkanerin. Im Sommerurlaub in Marokko aber bin ich die Deutsche."

Symbolbild: Trauer, Angst, Depression, Kummer. (Foto: Fotolia) Trauer, Angst, Depression, Kummer
Migration kann ein krankmachender Faktor seinBild: Fotolia

Wenn die Lebenssituation durch den Wohnortwechsel nicht besser wird, wenn die Betroffenen in ihrer neuen Wahlheimat Gewalt, Ausgrenzung und Rassismus erleben, könne das, so Ünal, psychische Erkrankungen begünstigen. Diese können sich auch durch Identitätsprobleme, wie in Saras Fall, bemerkbar machen.

Sara weiß bis heute nicht, wer sie ist: "Bin ich deutsch? Bin ich marokkanisch? Bin ich Deutsch-Marokkanerin? Ich habe das Gefühl, zwei Persönlichkeiten zu haben." Und je nach Thema oder Lage packt sie die Seite ihrer Persönlichkeit aus, die vom Gegenüber erwartet wird. In der Uni will sie jung und modern sein, frei von Konventionen leben. Ihre andere Seite, die marokkanische, ist viel wertebestimmter, konservativer. Hier sind Respekt und Tugenden wichtig. Die beiden Seiten lassen sich für Sara nur schwer vereinbaren.

Besonders fällt ihr das am Wochenende auf. Für ihre Kommilitonen ist es selbstverständlich, in Diskotheken zu gehen. Wenn Sara mitmacht, plagt sie gleichzeitig auch das schlechte Gewissen. Bin ich jetzt aus marokkanischer Sicht eine zweifelhafte Person ohne Tugenden? Beim Feiern ist sie immer darauf bedacht, nicht von anderen Marokkanern gesehen zu werden. "Was die sonst von mir halten würden?", fragt sie sich. Das Hin- und Hergerissensein zwischen zwei Kulturen stiftet bei Sara Verwirrung, Unsicherheit, Furcht: "Ich habe Angst vor bestimmten Situationen und Angst vor dem Leben als solches", gesteht sie.

Psychotherapie als Ausweg aus der persönlichen Krise

"Je nach Stärke der Symptome gibt es unterschiedliche Methoden, eine psychische Erkrankung in Folge einer negativen Migrationserfahrung zu heilen", erklärt Arif Ünal. Symptome könne man mit Medikamenten behandeln, sagt er. Zur Bekämpfung der Erkrankung aber brauche es unbedingt psychotherapeutische Hilfe, wie Sara sie in Anspruch nimmt.

Symbolbild: Arzt mit Patientin. (Foto: "picture-alliance/ZB")
Ein Therapeut hilft bei der Behandlung einer seelischen ErkrankungBild: picture-alliance/ZB

"Ich setze mich mit dem Thema auseinander und versuche mit Hilfe meines Therapeuten, einen Weg zu finden, mit beiden Seiten zu leben", erklärt sie. "Die meisten aus meinem Familien- und Freundeskreis haben sich für eine Seite entschieden, aber genau das funktioniert für mich nicht. Ich kann nicht sagen, ich bin Deutsche oder Marokkanerin. Aber genau das muss ich akzeptieren. Bis dahin ist es noch ein langer Weg."

Während sie über ihre Identitätskrise grübelt, muss Sara ganz unerwartet lachen. Sie gluckst: "Ach ja, mittlerweile habe ich noch eine dritte Persönlichkeit - die deutsch-marokkanische. Die schüttelt dann immer den Kopf über die beiden anderen Persönlichkeiten."