Krieg, Flucht, Espelkamp
10. Juli 2016Saad ist aus Syrien geflohen - wegen des Krieges. Aus dem Lernenden ist ganz schnell ein Lehrer geworden. In Damaskus war der stattliche Saad Informatikstudent. In der Flüchtlingsunterkunft in der ostwestfälischen Stadt Espelkamp unterrichtet er freiwillig andere syrische Flüchtlinge in deutscher Sprache.
Er selbst ist darin schon ziemlich gut. Seine Freunde haben noch so ihre Probleme: "Was bedeutet Zentrum?", fragt er in die Klasse. Langes Überlegen und die Antwort kommt dann doch von Saad selbst: "Innenstadt".
Der Deutschunterricht findet in den Räumen des Jugendmigrationsdienstes der Diakonie in Espelkamp statt. Am organisierten Sprach-und Integrationsunterricht dürfen Saad und seine Freunde noch nicht teilnehmen, weil ihr Antrag auf Asyl nicht anerkannt ist. So geht es vielen Flüchtlingen hier. Ohne freiwillige Initiativen, ohne die Hilfe der Kirchen und Selbsthilfeorganisationen, wäre die Lage dramatisch, die Langeweile noch deprimierender.
Dennoch fühlt sich Saad in der Flüchtlingsstadt Espelkamp gut aufgehoben: "Die Espelkamper sind sehr nett zu uns", sagt er mit einem breiten Lächeln. Die anderen stimmen ihm zu. Doch für Saad ist eines auch klar: "Ich möchte gerne in einer größeren Stadt leben und studieren. Vielleicht in Bielefeld."
Nicht gerade der Nabel der Welt
Berlin 330 Kilometer, Moskau 1.800 Kilometer, Tokio 11.700 Kilometer, Sydney 16.000 Kilometer. Wer die Breslauer Straße entlangläuft, kommt auf jeden Fall an dem Stahlgerüst vorbei, das die Interessengemeinschaft Espelkamper Unternehmen hat errichten lassen. Obendrauf prangt ein stählerner Globus. Dabei ist Espelkamp in Nordrhein-Westfalen nicht gerade der Nabel der Welt: 25.000 Einwohner, mittelständische Industrie, ein bekannter Hersteller für Geldspielautomaten, Supermärkte am Stadtrand.
Vertriebene, Aussiedler, Kriegsflüchtlinge
Schön ist es hier nicht, in der Stadt, die einst von den Nazis als Standort für Munitionsfabriken am Reißbrett geplant wurde und nach Kriegsende eigentlich dem Erdboden gleich gemacht werden sollte. Doch dann zogen Kriegsvertriebene aus Ostpreußen und Schlesien in die dürftigen Baracken ein und gründeten das neue Espelkamp. Darauf folgten die ersten "Gastarbeiter" und Anfang der 90er Jahre dann russlanddeutsche Aussiedler.
"Espelkamp war bei vielen Spätaussiedlern bekannter als Berlin", sagt Bürgermeister Heinrich Vieker von der CDU. Auf der Breslauer Straße sieht man die neueste Flüchtlingsgeneration. Diesmal kommen sie aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea. Verunsichert huschen sie über die Straße. Viele der rund 500 Flüchtlinge, die seit dem vergangenen Jahr kamen, wissen noch nicht, ob sie in Deutschland bleiben können.
Zermürbende Unsicherheit
"Diese Ungewissheit und die Unsicherheit über den eigenen Flüchtlingsstatus ist für viele einfach zermürbend", sagt Bürgermeister Vieker. "Auf diese Massenzuwanderung waren wir einfach nicht eingestellt", gibt der CDU-Politiker der Kleinstadt zu. "Wir mussten improvisieren."
Eine ehemalige Schule wurde kurzerhand zur Unterkunft und ebenso leer stehende Wohnungen. Zwei Containerdörfer, proper ausgestattet mit modernen Waschmaschinen, sind heute zur Unterkunft für Flüchtlinge geworden. Doch für Vieker ist vor allem wichtig: "Wir versuchen die Flüchtlinge dezentral unterzubringen, damit sich keine Ghettos bilden."
Claudia Armuth vom Jugendmigrationsdienst der Diakonie sieht es gelassen. Sie arbeitet in Espelkamp seit Jahrzehnten mit Neuankömmlingen. Die Zuwanderungsbewegung diesmal sei doch gar nicht schlimm. Bei den russlanddeutschen Spätaussiedlern seien es ganz andere Größenordnungen gewesen. "Espelkamp hat vor so etwas schon lange keine Angst mehr. Wir sind ganz gut organisiert."
Nazischmierereien gab es auch
Dennoch gab es am Anfang auch Widerstand gegen die Fremden, auch im multikulturellen Espelkamp. Unbekannte beschmierten die Flüchtlingsunterkünfte mit Hakenkreuzen. Über einem Brückengeländer hing eine Plane: "No Asyl und Pro NPD".
Sozialarbeiter Anton Schick vom Jugendzentrum "Real Life" hat folgende Beobachtung gemacht: "Die meisten Widerstände gegen Asylbewerber gibt es meiner Beobachtung nach nicht bei "Biodeutschen", sondern bei den Jugendlichen mit einem Migrations- oder russlanddeutschen Hintergrund."
Doch alles in allem hat es die Flüchtlingsstadt gut geschafft, die Migranten aufzunehmen. Bürgermeister Vieker erklärt das so: "Wir sind ja auch geflohen. Wir haben das erlebt. Wir haben eine besondere Sensibilität, mit der Flüchtlingssituation umzugehen."
Moscheegemeinde als moralische Stütze
Die meisten der Migranten sind Muslime. Im schlichten Gemeindehaus und der Moschee der islamischen Ditib-Gemeinde finden sie Halt, können sie ihren Glauben leben und über ihre Sorgen reden. Die Gemeinde besteht seit 1977, wurde von Zuwanderern aus der Türkei gegründet. Zum Freitagsgebet kommen bis zu 500 Gläubige. Flüchtlinge sind willkommen.
Auch Abdalah Alalousi ist mit seinem Bruder zum Gottesdienst gekommen. Abdalah ist erst 13 Jahre alt, ein unbegleiteter Flüchtling aus dem ostsyrischen Deir ez-Zor. Der Junge wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich ein Wiedersehen mit seinen Eltern. "Ich will, dass meine Eltern nach Deutschland kommen", sagt er in Deutsch. Er würde gerne bleiben. Zurück in den Krieg, in seine Heimat, will er auf keinen Fall. "Aber meinen Eltern fehlen die Papiere für die Einreise", beklagt Abdalah.
Warten, Ungewissheit, Langeweile - Bürgermeister Vieker kennt die Probleme. Doch die meisten Sorgen machen ihm die mangelnde berufliche Qualifikation vieler Flüchtlinge. "Wir haben einfach nicht genug Jobangebote hier." Aber auch dieses Problem wird die Flüchtlingsstadt meistern. Wenn nicht die Espelkamper, wer sonst.