Mit Epigenetik Gewaltverbrechern auf der Spur
21. Oktober 2018Er war ein ungewolltes Kind. Seine Eltern nutzten seinen Vornamen nicht, sondern sprachen ihn mit Schimpfwörtern an. Zur Maßregelung wurde er als kleiner Junge auf heiße Herdplatten gesetzt oder musste im Winter draußen schlafen. Später trank er, prügelte sich und landete mehrmals im Gefängnis.
Dort traf er mit Anfang 40 auf die Psychologin Rita Demmerling, die damals im geschlossenen Vollzug mit Gewaltverbrechern arbeitete. Heute ist sie Gefängnispsychologin im offenen Vollzug der JVA Bielefeld-Senne und erzählt von dem Mann, dessen Biografie beispielhaft für viele Gewaltverbrecher ist.
"Bei männlichen Gewalttätern ist es meist so, dass der Vater während der Kindheit entweder abwesend oder selbst gewalttätig war. Die Mutter ist in solchen Fällen oft emotional kalt dem Kind gegenüber", sagt Demmerling. Wohl niemand bezweifelt, dass erlebte Gewalt während der Kindheit zur Gewalttätigkeit im Jugendlichen- oder Erwachsenenalter führt. Doch so einfach ist es nicht. "Dass Gewalttäter Gewalttäter werden hat multifaktorielle Gründe", sagt Demmerling.
Einer davon ist die Genetik, genauer, die Epigenetik. Isabelle Mansuy ist Professorin für Neuroepigenetik an der Universität und ETH in Zürich und erforscht, wie sich Erfahrungen und Lebensführung epigenetisch auswirken und so an die nächsten Generationen weitervererbt werden.
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Genetik ist die Hardware, Epigenetik die Software
Der genetische Code (DNA), meist als gewundene Doppelhelix dargestellt, verändert sich dabei nicht. "Er ist wie die Hardware eines Computers", erklärt Mansuy. Als Epigenetik werden alle Prozesse bezeichnet, die die Funktion des genetischen Codes verändern. Mansuy vergleicht die Epigenetik mit der Software eines Computers. Letztendlich sei es diese Software, die entscheidet, an welchen Stellen die Hardware aktiviert werde. "Der genetische Code, also die Hardware, ist nutzlos ohne die epigenetischen Faktoren", so Mansuy.
Traumatische Erlebnisse und Gewalterfahrungen modifizieren unsere DNA ebenfalls. Und nicht nur das: Diese spezielle Modifizierung des genetischen Codes kann weitervererbt werden. Mansuy konnte das an Experimenten mit Mäusen nachweisen. Sie trennte die Mäusebabies immer wieder für mehrere Stunden von ihren Müttern, was für die Jungtiere extremen Stress bedeutete und sie nachhaltig traumatisierte. Verhaltensgestörte erwachsene Mäuse waren die Folge. So weit, so vorhersehbar.
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Verhaltensgestört, trotz normaler Kindheit
Bemerkenswert aber ist, dass auch die Nachkommen dieser Mäuse, die ganz normal aufwuchsen, Verhaltensstörungen zeigten. Mansuy konnte auch bei diesen Tieren epigenetische Veränderungen feststellen, die über die Keimzellen, genauer, die Spermazellen, an die Kinder weitervererbt worden waren.
Thomas Elbert ist emeritierter Professor für Klinische Psychologie und Neuropsychologie an der Universität Konstanz. Er erforscht, wie sich Traumata auf die menschliche Psyche auswirken. Dafür hat er viele Feldstudien in Krisengebieten durchgeführt und unter anderem mit Kindersoldaten gearbeitet. Dafür nutzt er auch das Wissen der Epigenetiker.
In einer 2017 veröffentlichten Studie konnten Elbert und seine Kollegen nachweisen, dass traumatischer Stress, den eine Frau während ihrer Schwangerschaft durchlebt, noch in ihren Enkeln nachweisbar ist. Die DNA-Methylierung hatte diesen Stress über mehrere Generationen transportiert, ohne dass die Kinder und Enkelkinder selbst traumatische Erfahrungen gemacht hatten.
Weisen Mansuys und Elberts Forschung nun darauf hin, dass verhaltensgestörte Erwachsene bereits gestört zur Welt kommen – und damit eine große Chance auf eine kriminelle Karriere haben? Nein, sagen die beiden Forscher. Sie stimmen mit der Psychologin Demmerling überein, dass viele Faktoren zusammenkommen müssen, damit das Kind zum Gewaltverbrecher heranwächst.
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Epigenetik ist einiges, aber nicht alles
Aber: Der ungünstige epigenetische Nährboden könne die Gewalt- und Kampfbereitschaft durchaus steigern, sagt Elbert. "Erlebt eine Mutter lebensbedrohlichen Stress während der Schwangerschaft, gibt sie dem Kind die Information, pass auf, du kommst in eine gewalttätige Umwelt, da liest du jetzt andere Teile deines genetischen Codes aus." Die Stressachse dieser Kinder sei verschoben, erklärt Elbert. "Sie schalten viel schneller auf Angriff, Kampf und Flucht." Für Regionen, in denen Krieg und Unruhe herrschen, sei diese Programmierung sogar sinnvoll, sagt der Neuropsychologe.
Wer den Gedanken "die Gewalt liegt mir in den Genen" nun beängstigend findet, den können die Forscher an dieser Stelle beruhigen. Die epigenetischen Modifizierungen können jederzeit verändert werden. Nichts davon ist fix. Psychotherapie ist eine gute Möglichkeit, die Epigenetik umzuprogrammieren und der Software quasi ein Update zu verpassen.
"Ist genetisch" gilt nicht!
Wer seine epigenetische Dispositionierung kenne, sei ihr nicht ausgeliefert, sondern habe die Möglichkeit, gegenzusteuern, sagt Elbert. "Wenn ich weiß, dass meine Stressachse verschoben ist, sodass ich schneller zuschlagen möchte als andere, dann kann ich lernen, mich besser zu kontrollieren."
Der Insasse, mit dem die Gefängnispsychologin Demmerling gearbeitet hat, hatte seine Gewaltausbrüche irgendwann zumindest so weit unter Kontrolle, dass er keinen anderen Menschen mehr verletzt hat. Während der Therapie schloss er sich eng an die Therapeutin und ihren Kollegen an. "Er hat uns ein bisschen zum Elternersatz erkoren und zum ersten Mal die Erfahrung gemacht, dass sich Menschen liebevoll und aufmerksam zuwenden."
Inwieweit sich die Epigenetik dieses Straftäters durch die Therapie verändert hat, hat niemand je untersucht. Doch die Studien der Neuroepigenetikerin Mansuy haben gezeigt, dass nicht nur Stress epigenetisch nachweisbar ist, positive Erfahrungen sind es auch. "Epigenetik ist dynamisch. Die genetischen Modifizierungen können durch positive Erlebnisse und Umweltbedingungen verbessert werden."