Kunden zweiter Klasse?
23. Januar 2014Plötzlich wird das Einkaufszentrum zur Tanzfläche. Zehn, zwanzig, hundert junge Menschen beginnen - wie auf Kommando - zu singen, bauen mit lautem Händeklatschen einen Rhythmus auf, um sich dann in dessen Schwung zu wiegen. Eine Zeitlang bringt die Gruppe die gepflegte Shopping-Kundschaft um sie herum gehörig aus dem Takt. Doch schon rücken die Kräfte des privaten Sicherheitsdienstes an. Ihre grimmigen Mienen geben den Tanzenden deutlich zu verstehen, was sie von deren Treiben halten.
"Rolezinhos" heißen diese wie aus dem Nichts sich formierenden Spektakel, zu denen sich junge, meist dunkelhäutige und aus den Favelas stammende Brasilianer in den großen Shoppingmalls treffen. Der Begriff bedeutet so viel wie "kleine Rolle", und deutet die besondere Art der Treffen an: Ganz diskret "rollen" die Jugendlichen heran - unvermittelt sind sie da, drücken der Szenerie für einige Minuten ihren Stempel auf.
Die Rolezinhos sind eine spielerische Alternative zu den großen Sozialprotesten des vergangenen Jahres. Die Verabredungen laufen über soziale Netzwerke wie Facebook. Schnell können einige Hundert Jugendliche zusammenkommen. Das gemeinsame Singen ist nur eine Form, auf sich aufmerksam zu machen. Mitunter schmeißen sich die Versammelten auch auf den Boden oder bilden dichte Menschentrauben auf Rolltreppen oder den Innenterrassen der Einkaufszentren.
Verschärfte Sicherheitsmaßnahmen
Mit ihren Aktionen wehren sich die Jugendlichen dagegen, als Kunden zweiter Klasse behandelt zu werden. Denn die Inhaber der privat geführten Shoppingmalls können frei entscheiden, wem sie Eintritt gewähren und wem nicht. Und die mittellosen und meist dunkelhäutigen Jugendlichen müssen sehr oft draußen bleiben. Seit die Rolezinhos im vergangenen Dezember angelaufen sind, haben die Shoppingcenter ihre Sicherheitsmaßnahmen drastisch verschärft. Wer aussieht, als wollte er in der Shoppingmall nichts kaufen, sondern etwa tanzen, wird gar nicht erst hineingelassen.
Die scharfen Maßnahmen vor den Einkaufszentren haben dazu geführt, dass die Rolezinhos nun auch durch die brasilianischen Medien rollen. Diese debattieren darüber und kommen zu dem Schluss: Brasilien hat einRassismus-Problem. So schreibt Mitte Januar (21.01.2014) die Zeitung Folha de São Paulo: "Die jungen Leute kommen nicht etwa deswegen nicht mehr in die Einkaufszentren, weil sie etwas gegen Klimaanlagen an einem heißen Nachmittag einzuwenden hätten. Sondern schlicht deshalb, weil die Sicherheitskräfte sie nicht mehr hereinlassen. Täten sie das, würde man sie sofort entlassen." Solche Abwehrmaßnahmen seien nicht hinnehmbar, schreibt die Zeitung weiter, und ebenso wenig die generelle Geringschätzung der jungen Kunden. "Wir leben in einer Zeit, in der so manche Spielart sozialer und ethnischer Diskriminierung nicht mehr statthaft ist." Für Odachlose fordere niemand ein Recht, die Einkaufszentren ungehindert betreten zu können. "Aber uns schaudert bei dem Gedanken, dass Personen nur aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihres Einkommens abgewiesen werden."
Soziale Unterschiede
Die Diskussion um den Rassismus findet vor dem Hintergrund sozialer Unterschiede statt, die mit der Hautfarbe in Zusammenhang stehen. Das zeigt sich etwa auf dem Arbeitsmarkt. Zwar haben sich die Situation in den letzten Jahren auch dank engagierter Sozialprogramme kontinuierlich verbessert, aber sie besteht weiter fort. Nach Angaben des nationalen brasilianischen Statistikamts haben 53 Prozent derer, die innerhalb der letzten zwölf Monate eine Arbeit suchten, eine dunkle Hautfarbe. Und von denen, die seit über einem Jahr auf Arbeitssuche sind, haben über 60 Prozent eine dunkle Haut. Oft, erklärt die Soziologin Lilia Moritz Schwarcz, fänden sich afrikanischstämmige Beschäftigte auch in untergeordneten Positionen wieder. In die obersten Hierarchien kämen sie selten. "Jeder weiß, wohin er gehört" resümiert sie die Spielregeln auf dem Arbeitsmarkt. Das hat Folgen für den Alltag zahlloser Menschen: Rund 45 Prozent der derzeit gut 200 Millionen Brasilianer haben afrikanische Wurzeln.
Vor diesem Hintergrund gehe es den Aktivisten der Rolezinhos um mehr als nur das Recht auf ungehindert Eintritt in die Shoppingcenter, sagt die an der Universität Oxford lehrende brasilianische Anthropologin Rosana Pinheiro Machado im Gespräch mit der DW. "Die Teilnehmer zeigen so, dass sie die ihnen gegenüber demonstrierte Ablehnung nicht hinnehmen. Viele der Betroffenen berichten, wie schwierig es für sie sei, immer nur als armer Favela-Bewohner zu gelten."
"Misslungener Scherz"
Zu den ökonomischen Problemen vieler dunkelhäutiger Brasilianer gesellen sich immer wieder kleinere gesellschaftliche Provokationen. Aktuell sorgt etwa Cássio Lannes, Teilnehmer der jüngsten, so eben gestarteten Staffel der brasilianischen Ausgabe von "Big Brother", für Aufregung. Er hatte im Jahr 2011 in einem Tweet geschrieben, er sehne sich nach den Zeiten zurück, in denen es kein Verbrechen war, Sklaven zu haben, hatte er seinerzeit geschrieben. Lannes Vater bezeichnete den Satz nun als misslungenen Scherz. Doch den Unmut über die Äußerung seines Sohnes konnte er nicht mehr stoppen.
Größere Unannehmlichkeiten drohen in diesen Tagen einem 16-Jährigen. Er hatte auf einer digitalen Verkaufsplattform geschrieben, er biete "vielfältig einsetzbare" Schwarze zum Preis von je einem Real - umgerechnet rund 35 Euro-Cent - an. Derzeit muss er sich deswegen vor einem Jugendgericht verantworten.
"Rassismus entmenschlicht"
Diese Ereignisse vor Augen, sieht auch Luiza Bairros, Leiterin des Sekretariats zur Förderung ethnischer Gleichheit, die Rolezinhos als Ausdruck eines geschärften sozialen Bewusstseins der dunkelhäutigen Brasilianer. Sie seien sich klar darüber, auf welche Umstände ihre Probleme zurückgingen, erklärte sie in einem Interview mit der Zeitung Folha de São Paulo. "Der Rassismus entmenschlicht eine schwarze Person. Er sieht in ihr kein menschliches Wesen, sondern ein im Zweifelsfall gefährliches Tier."