Das menschengemachte Massenaussterben
14. Januar 2022Vor etwa 65 Millionen Jahren starben die Dinosaurier aus, es war das letzte große Artensterben. Wissenschaftler warnen, dass wir uns nun in der frühen Phase einer vergleichbaren Katastrophe befinden. Im Gegensatz zu allen anderen ist dieses sechste Massensterben jedoch vom Menschen verursacht: durch Klimawandel, Zerstörung von Lebensräumen, Umweltverschmutzung und industrielle Landwirtschaft.
Bei einem Massenaussterben überleben innerhalb von rund drei Millionen Jahren mindestens drei Viertel aller Arten nicht. Bei unserem derzeitigen Tempo sind wir auf dem besten Weg, diesen Artenverlust innerhalb weniger Jahrhunderte zu erreichen. Allein in den nächsten Jahrzehnten sind mindestens eine Million Arten vom Aussterben bedroht. Das geht bereits aus einer Schätzung in einem bahnbrechenden UN-Bericht hervor, der 2019 veröffentlicht wurde.
Der Versuch, die Auswirkungen eines vollständigen Zusammenbruchs der Biodiversität vorherzusagen, ist sehr komplex. Wissenschaftler sind sich jedoch darin einig, welche Folgen es haben wird, wenn das Aussterben in der derzeitigen Geschwindigkeit weitergeht. Und alle Effekte sind untrennbar miteinander verbunden.
Verlust der Ernährungssicherheit
Als erstes werde die Menschheit erleben, dass sich das Nahrungsangebot deutlich verringert, sagt Corey Bradshaw, Professor für Globale Ökologie an der Flinders University in Südaustralien. Der Grund: die fehlende Bestäubung von Pflanzen.
Bradshaws mathematische Modelle zeigen die Wechselwirkungen: So hänge etwa ein Drittel der weltweiten Nahrungsversorgung von Bestäubern wie Bienen ab und wenn sie aussterben, könnten die landwirtschaftlichen Erträge entsprechend sinken, so Bradshaw. Zudem könnten sich einige Pflanzenschädlinge stark vermehren, wenn es keine natürlichen Fressfeinde mehr gibt wie andere Insekten.
Millionen Menschen sind zudem auf wildlebende Tiere für die Ernährung angewiesen, besonders an den Küsten durch den Fischfang. Doch der Fischbestand ist bedroht und damit eine wichtige Ernährungsgrundlage.
Dieser Mangel an Ernährungssicherheit, der auch mit zunehmenden Dürren und Überschwemmungen verbunden sein wird, wird laut Bradshaw ärmere Regionen am härtesten treffen, insbesondere Afrika südlich der Sahara und Teile Südostasiens.
Weniger fruchtbare Böden
Auch die Bodenqualität wird sich voraussichtlich verschlechtern, wenn bestimmte Mikroorganismen absterben. Obwohl hier die Datenlage schwach ist, glauben einige Forscher, dass Mikroorganismen möglicherweise schneller verschwinden als andere Arten. Ihr Fehlen könnte zu einer Verschlimmerung der Bodenerosion führen. Das wiederum zu mehr Überschwemmungen sowie zu einer geringeren Bodenfruchtbarkeit und das würde das Pflanzenwachstum beeinträchtigen.
Colman O'Criodain von der Naturschutzorganisation WWF hält das Absterben von Mikroorganismen für besonders gefährlich. "Die organische Substanz ist in gewisser Weise wie der Klebstoff, der alles zusammenhält. Man kann sich das wie bei einem Weihnachtspudding vorstellen. Der hat einige trockene Zutaten wie Semmelbrösel, Mehl und Trockenfrüchte. Aber Eier und Stärke halten ihn zusammen, machen den Pudding weich und matschig und geben ihm seine Form", erläutert O'Criodain das Prinzip.
Hungersnöte durch Wasserknappheit
Ein Großteil des Süßwassers kommt aus Feuchtgebieten, dort wird das Wasser gereinigt und verteilt. Das Wasser aus dem Himalaja ist ein Beispiel: Es wird von Feuchtgebieten gespeist und versorgt rund zwei Milliarden Menschen mit Wasser. Wenn diese Feuchtgebiete aufgrund von zurückgehender Vegetation oder zum Beispiel von Algenblüte zusammenbrechen, könnte die Menschheit viel Wasser zum Trinken und zur landwirtschaftlichen Nutzung verlieren.
Auch durch Abholzungen verschieben sich wahrscheinlich die Niederschlagsmuster, da durch den Verlust von Bäumen weniger Feuchtigkeit verdunstet. Ganze Landschaften könnten so austrocknen, ein Prozess, der derzeit im Amazonas beobachtet wird.
Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schätzt, dass seit 2015 jährlich etwa 10 Millionen Hektar Wald abgeholzt werden. Dies entspricht der Fläche von Frankreich und Spanien zusammen. Und mit dem Verlust von Bäumen und Vegetation wird erwartet, dass sich der Klimawandel verschlimmern und es mehr extreme Wetterereignisse geben wird. Trockenere Bedingungen und ungesunde Wälder erhöhen zudem das Risiko von Waldbränden.
Diese verschiedenen Entwicklungen führen zu Missernten, Hungersnöten und zu Konflikten um knapper werdende Ressourcen. Menschen versuchen dem zu entkommen und dies führt zur Massenmigration.
Verlust von Widerstandsfähigkeit, mehr Pandemien
Nach Einschätzung des schwedischen Umweltwissenschaftlers Carl Folke vom Stockholm Resilience Center trägt Artenvielfalt dazu bei, den Ausfall einzelner Elemente des Ökosystems gut zu überstehen. Doch das sei durch den Einfluss des Menschen verwundbarer geworden. "Wenn Sie unter sehr stabilen Bedingungen leben und alles vorhersehbar ist, brauchen Sie diesen Puffer der Artenvielfalt nicht. Aber wenn Sie in turbulenteren Zeiten mit unvorhersehbareren Situationen leben, ist eine Vielfalt an Optionen extrem wichtig", sagt Folke.
Forscher warnen auch davor, dass der Verlust der biologischen Vielfalt zu einem erhöhten Risiko von Pandemien führen könnte, da Wildtiere und Menschen durch die Fragmentierung von Lebensräumen und die Störung natürlicher Systeme enger miteinander in Kontakt kommen.
Das oft zitierte Beispiel dafür ist der Ebola-Ausbruch 2014 in Westafrika. Dieser wurde vermutlich von Kindern verursacht, die in einem ausgehöhlten Baum voller Fledermäuse spielten. Obwohl der Ursprung von Corona noch unklar ist, bringen einige Studien diesen Erreger ebenfalls mit Fledermäusen in Verbindung.
Kann der Artenverlust noch rückgängig gemacht werden?
Trotz dieser katastrophalen Vorhersagen lässt sich Thomas Brooks von der Weltnaturschutzunion (IUCN) den Optimismus nicht nehmen: "Es gibt viele Beispiele, bei denen es Menschen gelungen ist, das Blatt zu wenden."
Die Wiederansiedlung von Bibern in Europa war zum Beispiel so eine Erfolgsgeschichte. Die IUCN erstellt die Liste zum weltweiten Artenverlust, die sogenannte Rote Liste - und Untersuchungen zeigen, dass Naturschutzbemühungen funktionieren. Eine kürzlich durchgeführte Studie ergab, dass die Verluste seit 1993 ohne Naturschutzmaßnahmen drei- bis viermal so hoch gewesen wären.
Adaptiert aus dem Englischen von Gero Rueter