KZ-Überlebender Boris Pahor gestorben
30. Mai 2022Vier Feinde kannte er: den Faschismus, den Nationalsozialismus, die kommunistische Diktatur und den Kapitalismus. Gegen die Diktatur schrieb Boris Pahor an, ob gegen die des Geldes, die von Mussolini, Hitler und Stalin. In seinem langen Leben, das beinahe das gesamte 20. Jahrhundert umfasst, hatte der Schriftsteller und KZ-Überlebende unzählige Gelegenheiten dazu.
Boris Pahor wurde am 26. August 1913 in der Stadt Triest geboren, die damals noch zu Österreich-Ungarn gehörte. Der Vater war Zivilangestellter bei der Verwaltung der kosmopolitischen Stadt. Weltbürger zu sein, das empfand Pahor auch im hohen Alter noch als "Selbstverständlichkeit", wie er der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in einem Interview im Jahr 2014 mitteilte.
Seine Verwandte waren Angehörige der slowenischen Minderheit in Triest, das 1918 nach dem Zerfall der Donaumonarchie von Italien annektiert wurde. 1922 kam der Faschist Benito Mussolini in Italien an die Macht. Triest wurde von den Faschisten "italianisiert", Minderheiten unterdrückt, Pahors Vater musste sich daraufhin als Straßenhändler durchschlagen. In seinem Buch "Blumen für einen Aussätzigen" (2004) legt Pahor Zeugnis ab über den Terror der italienischen Faschisten gegen die slowenische Minderheit in Triest, deren Geschichte er sich noch einmal in "Piazza Oberdan" (2006) widmete.
Auf einem Todesmarsch aus Bergen-Belsen
Im Jahr 1940 rekrutierte ihn die italienische Armee und schickte ihn nach Libyen. Dort gelang es ihm, das nicht anerkannte kirchliche Abitur nachzuholen. Nach dem Zusammenbruch des faschistischen Italien kehrte Boris Pahor nach Triest zurück. Während des Zweiten Weltkriegs kämpfte er ab 1943 im Widerstand gegen die deutschen Besatzer und die mit ihnen verbündeten italienischen Faschisten. Im Januar 1944 wurde er von der mit der SS kollaborierenden Domobrancen-Miliz verhaftet und in das KZ Dachau deportiert. Er überlebte weitere vier NS-Konzentrationslager, nämlich Natzweiler-Struthof, Dora-Mittelbau, Harzungen und Bergen-Belsen, von wo aus er auf einen Todesmarsch geschickt wurde. Bei ihm war der berühmte französische Schriftsteller Stéphane Hessel.
Seinen fünfzehnmonatigen Überlebenskampf in den Lagern hat Pahor in dem Buch "Nekropolis" (1967) festgehalten, das ihm seinen Platz unter den großen Autorinnen und Autoren seiner Zeit sicherte, mit denen er in einem Atemzug genannt wird: Imre Kertész, Primo Levi , Ruth Klüger.
Nach seiner Freilassung reiste Pahor nach Paris, um eine Tuberkulose-Erkrankung auszukurieren. Auf seinen Pariser Erfahrungen beruht sein zweites wichtigstes Werk, "Kampf mit dem Frühling" (1978). Darin versucht ein slowenischer KZ-Überlebender ins Leben zurückfinden. Die Zuneigung einer französischen Krankenschwester hilft ihm dabei. Das Buch widmet sich der Frage, wie ein Leben, Sprechen und Erinnern mit jenen Menschen möglich ist, die nicht im Lager waren.
Nach seiner Zeit in Paris kehrte Pahor nach Triest zurück. Die ersten Nachkriegsveröffentlichungen machten ihn in Slowenien, das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Teilrepublik der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien war, beliebt und berühmt. Als Kritiker des Kommunismus kam er mehrfach in Konflikt mit den jugoslawischen Machthabern, drei Jahre lang verbot man ihm aufgrund seiner antitotalitären Äußerungen die Einreise nach Slowenien.
Seine Heimat blieb das kosmopolitische Triest. Von 1953 bis zu seiner frühzeitigen Pensionierung 1975 unterrichte er an einem slowenischen Gymnasium Literatur und schrieb viele seiner wichtigsten Bücher. Erst in den 1990er-Jahren wurde er auch ins Deutsche, Englische und Französische übersetzt, dann wurde er dem Publikum im Westen bekannt und avancierte zu einem der Kandidaten für den Literaturnobelpreis. Zurzeit sind auf Deutsch vor allen Dingen seine zwei Hauptwerke, "Nekropolis" (Berlin Verlag) und "Kampf mit dem Frühling" (Klett-Cotta) zu erhalten.
Zuletzt sorgte sich Pahor um eine "Diktatur des Kapitals"
Bis ins hohe Alter setzte sich Boris Pahor unermüdlich gegen Diktaturen und Totalitarismus ein. Er prangerte Geschichtsvergessenheit in Europa an, insbesondere in Italien, und warf in demselben Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" aus dem Jahr 2014 den öffentlichen Stellen in Italien vor, so gut wie nichts dafür zu tun, die Erinnerung an die Gräueltaten der Faschisten lebendig zu halten. Um die sechs oder sieben Konzentrationslager in und um Ljubljana unter italienisch-faschistischer Herrschaft wisse so gut wie niemand, so Pahor.
Besorgt zeigte er sich in seinen letzten Lebensjahren auch zunehmend um die "Diktatur des Kapitals", die im Rahmen der Banken- und Finanzkrisen der Jahre 2007 und 2008 offensichtlich geworden sei - aber auch um das Ableben der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus dem 20. Jahrhundert.
Lernen, was passieren kann
"Man kann ganz bequem damit beginnen, die Geschichte umzuschreiben, wenn es niemanden mehr gibt, der mit der Autorität eines Augenzeugen widersprechen kann", so Pahor weiter gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". "Ich vergesse nicht, was dem menschlichen Geist und menschlichen Körpern im zwanzigsten Jahrhundert angetan wurde." Auch gegenüber dem slowenischen Fernsehen bekräftigte er in einem seiner letzten öffentlichen Auftritte noch einmal die Bedeutsamkeit des Erinnerns: "Ich wollte bezeugen und erzählen, was ich erlebt habe, damit andere lernen können, wie und was passieren kann."
Nun ist Boris Pahor am 30. Mai 2022 im Alter von 108 Jahren in Triest verstorben. Boris Pahor hinterlässt ein so umfassendes wie poetisches literarisches Werk, das sowohl auf slowenisch wie auch in Übersetzung seine Zeugenschaft bewahren wird. Der slowenische Staatspräsident Borut Pahor, der seinen Nachnamen mit dem Verstorbenen teilt, würdigte ihn als das "Gewissen Sloweniens, Europas und der Welt. Ein Mann, der für sich die Freiheit forderte, anders zu denken, und die gleiche Freiheit für andere forderte." Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella würdigte Pahor als "Zeitzeugen und Opfer von Kriegsgräueln, überhöhtem Nationalismus und totalitärer Ideologien".