Kunst als Überlebensmethode
11. April 2015Deutsche Welle: Der Franzose Pierre Provost, Häftling und Widerstandskämpfer im KZ, fertigte die Münzen damals unter größter Gefahr an. Inwiefern kann man seine Werke als Kunst verstehen?
Rikola-Gunnar Lüttgenau: Mit dem Kunstbegriff unserer Welt kommt man wirklich relativ schnell ins Stolpern, wenn man sich mit Kunst aus Konzentrationslagern beschäftigt. Denn dort ist Kunst noch in einem ganz anderen Maße ein Überlebensmittel der Selbstvergewisserung der Menschen, die zu Nummern degradiert wurden. Das heißt, Kunst in Konzentrationslagern ist häufig Überlebensmethode, ist Zeugnis. Das Besondere bei Pierre Provost ist, dass er noch darüber hinaus geht. Er fertigte bereits im Lager Miniaturen für Medaillen an. Er arbeitet etwas heraus, was es eigentlich erst nach dem Lager gibt. Er arbeitet direkt im Lager an einem Bildgedächtnis über die Konzentrationslager. Vor der Befreiung durch die Amerikaner am 11. April 1945 gab es keine Fotos. Man konnte sich im wahrsten Sinne des Wortes kein Bild von einem Konzentrationslager machen.
Welche Motive hat Pierre Provost in seinen Medaillen festgehalten? Mit welchem Handwerkszeug hat er diese Gravuren denn hergestellt? Sie waren doch sicherlich nur unter Lebensgefahr anzufertigen.
In ihnen sehen Sie die kahlgeschorenen Köpfe, die später ikonographisch für die Konzentrationslager geworden sind. Sie sehen das Lagertor und natürlich das Krematorium mit den rauchenden Schornsteinen, das von dem Appellplatz oder den Baracken aus jederzeit zu sehen war. Die Häftlinge wurden zur Rüstungsindustrie in Werkstätten und zum Aufbau des Lagers permanent eingesetzt. Der illegale Widerstand hat immer wieder nicht nur Waffen aus der Rüstungsindustrieproduktion, sondern auch Werkzeuge organisiert, um sie für ihre Zwecke zu nutzen. Durch den Schutz des Widerstandes hatte er den Vorteil durch seine Arbeit im Steinbruch in einer Baracke unterzukommen. Dort hatte er den Freiraum auch als Graveur zu arbeiten.
Ist Provost auch Gefahr gelaufen, erwischt zu werden? Denn das musste ja unter der Hand auch weitergegeben werden. Wo hat er die Materialen aufbewahrt?
In seiner Baracke wurden die Materialien mit dem Wissen des Blockältesten aufbewahrt. Das heißt in der Tat, dass man nicht alleine agieren konnte. In einem Konzentrationslager war man darauf angewiesen, das andere einem helfen und darin lag wiederum auch die Gefahr, dass Spitzel der SS einen verraten.
Stellen Sie bei einer Sonderausstellung auch immer die ganzen biographischen Hintergründe mit aus? Ist das Teil ihres Konzeptes?
Das ist sicherlich eine Form der Balancierung. Das Kunstwerk allein, d.h. die Medaille allein auszustellen, würde diesen vielschichtigen Bedeutungsdimensionen als Überlebensmittel, als Zeugnis, als Bildgedächtnis sicherlich nicht gerecht werden. So geht es auch immer darum, das Kunstwerk als solches sichtbar und in seinen verschiedenen Bedeutungsdimensionen erschließbar zu machen. Insofern haben sie Recht. Es geschieht immer beides.
Sie haben in der Gedenkstätte eine richtige Kunstsammlung? Was haben Sie dort alles gesammelt und vor allem seit wann wird diese Kunst dort aufbewahrt?
Tatsächlich ist die KZ-Gedenkstätte Buchenwald die einzige, die über eine permanente Dauerausstellung zur Kunst über und aus den Konzentrationslagern in Deutschland verfügt. Diese Sammlung ist im Wesentlichen seit den 1970er-Jahren aufgebaut wurden. Wir verfügen inzwischen über einen tatsächlich einzigartigen Bestand von hunderten von Zeichnungen, die im Lager entstanden sind – hauptsächlich auf der Grundlage Zeugnis abzulegen.
Beschäftigen sich auch jüngere Künstler mit dieser Thematik und auch mit dem Thema Konzentrationslager und Buchenwald?
Natürlich. Vor allem junge Künstler, wie Naomi T. Salmon, eine israelische Künstlerin, deren Werke wir ausstellen. Das sind Werke, die sehr tastend vorgehen und selber fragen: Wie kann ich denn überhaupt Erinnerung thematisieren? Wie kann ich mich erinnern? Eigentlich kann ich mich als Nachgeborener ja nicht erinnern. Ich muss mich damit auseinandersetzen. Was kann ich überhaupt in die Hand nehmen? Wie weit ist die Reichweite eines Fundstückes? Das bilden die fotografischen Werke von Naomi T. Salmon ab. Damit hinterfragt sie auch die Reichweite dieser Asservate eines Verbrechens. Das sind wichtige Fragen, die uns in der pädagogischen Arbeit auch helfen, selber auf die Dokumente zu schauen.
Wie geht denn die Künstlerin Jenny Stolzenburg, die auch eine Nachgeborene ist, damit um? Sie Auf welche Weise thematisiert sie denn das Erinnerungsstück in Ihrer Daueraustellung?
Das, was sie auch an Technik beherrscht – in diesem Fall ist es Keramik, nutzt sie. Jenny Stolzenburg hat viele kleine Schuhe von Toten, die sich auch in Buchenwald massenhaft auf den Müllhalden finden, in ihrer Kunst aufgegriffen. Die Schuhe reflektieren immer das Leben der Menschen zuvor. Diese bringt sie wie eine vergangene Armee in ihrer Buntheit und Verschiedenheit noch einmal auf Linie und verweist so auf die Brüche, die Konzentrationslager auch bedeuten.
Die kleinen Medaillen von Pierre Provost werden jetzt noch einmal am 11. April in einer anderen Form weitergegeben, auch als Erinnerungsstücke. Was haben Sie mit ihnen genau vor?
Wir haben noch eine der Medaillen, die im Lager in Buchenwald 1944 von Pierre Provost modelliert und graviert wurden. Die Münze von Paris, die renommierteste Münze von Frankreich, hat diese Münze wieder aufgelegt. Alle Überlebenden, die nun zum 70. Jahrestag der Befreiung wiederkommen, werden diese Münze erhalten.
Was denken Sie, wie viele noch kommen werden? Es sind ja sehr viele schon gestorben.
Richtig. Wir waren in den letzten Wochen und Monaten mit über 150 Überlebenden von Buchenwald in Kontakt, die gerne kommen wollten, die aber dann wegen nicht vorhandener Reisefähigkeit und zum Teil auch, weil sie gestorben sind, nicht kommen können. Jetzt sind es noch 70 Überlebende - was viel ist. Ich weiß von Kollegen in anderen KZ-Gedenkstätten, dass sie zum Teil nur noch vier oder fünf Überlebende begrüßen können. Das hat etwas mit der besonderen Geschichte von Buchenwald zu tun, weil es hier dem illegalen Widerstand gelungen ist über 900 Kinder vor dem sicheren Tod innerhalb des Lagers zu retten. Diese Kinder, die damals, vier, fünf, zehn Jahre alt im Lager waren, haben überlebt. Sie bilden die letzte Gruppe, die noch aus der Zeit des Lagers berichten kann.
Das Interview führte Heike Mund.