Latinos kehren Rom den Rücken
30. Juni 2014Aus gutem Grund hat Lateinamerika den Beinamen der "katholische Kontinent". Von den erzkatholischen Ländern der iberischen Halbinsel kolonisiert gehörte die Bevölkerung mehrere Jahrhunderte lang per se der Römischen Kirche an. Doch wenn Brasiliens, Kolumbiens oder Costa Ricas Fußballer dieser Tage nach einem Tor ihren Dank Richtung Himmel schicken, tun das längst nicht mehr alle nach katholischem Brauch.
Noch Anfang des 20. Jahrhunderts, also rund 75 Jahre nach ihrer Unabhängigkeit und mehrere Einwanderungswellen später - unter anderem aus protestantischen Gegenden wie Preußen und den britischen Inseln, aber auch aus Asien und dem Vorderen Orient - weisen Erhebungen für sämtliche Länder der Region eine Katholiken-Quote zwischen 95 und 99 Prozent auf. Doch seither sinkt der Anteil der Rom-treuen Christen stetig und mit zunehmender Geschwindigkeit.
Eine nun veröffentlichte Studie des chilenischen Meinungsforschungsinstituts Latinobarómetro hat Umfrageergebnisse aus allen 18 Ländern der Region von 1995 und 2013 verglichen. Das Ergebnis: Der Anteil bekennender Katholiken ist während dieser Zeit von 80 auf 67 Prozent gesunken. Statt vier von fünf fühlen sich nur noch zwei von drei Latinos und Latinas in der katholischen Kirche zugehörig. Das gilt selbst für das größte katholische Land der Erde, Brasilien.
"In der Hälfte aller Länder der Region ist der Katholizismus nicht mehr dominierend, heute ist Lateinamerika eindeutig eine Region mit mehreren Konfessionen", resümieren die Autoren.
So deutlich die Entwicklung in der Weltregion sein mag, ergibt sich kein homogenes Bild: Im Inselstaat Dominikanische Republik und in Mexiko, dem größten der 17 spanischsprachigen Länder der Region, verzeichnete die Katholische Kirche sogar einen leichten Mitglieder-Zuwachs. In anderen Ländern, insbesondere in Mittelamerika, sank der Katholiken-Anteil derweil um bis zu 30 Prozent.
Lieber Christ als Katholik
Doch anders als in Deutschland, wo sich fast jeder dritte Einwohner gar keiner Religionsgemeinschaft zurechnet, bleiben die meisten Lateinamerikaner ihrer Spiritualität treu. Lediglich in Uruguay (38 Prozent) und Chile (25 Prozent) stellen bekennende Atheisten, Agnostiker und Co. mehr als ein Viertel der Bevölkerung.
In den meisten Ländern treten an die Stelle des Katholizismus andere Glaubensbekenntnisse: "Seit dem 19. Jahrhundert haben andere etablierte Kirchen wie Lutheraner, Anglikaner und Reformierte in Lateinamerika fußgefasst", sagt der Soziologe Cristián Parker Gumucio von der Universität Santiago de Chile, "seit Mitte des 20. Jahrhunderts verbreiten sich zudem neue Glaubensgemeinschaften wie Evangelikale und Pfingstkirchen, die vor allem aus den USA nach Lateinamerika gelangen."
Am stärksten ist ihr Einfluss in Mittelamerika. Dort drohen die neuen Konfessionen sogar, der Römischen Kirche den ersten Rang abzulaufen. 2013 bekannten sich in Honduras fast genauso viele Menschen zu einer evangelikalen Kirche (41 Prozent) wie zum Katholizismus (47 Prozent) bekannten.
Spirituelle Flexibilität hat Tradition
Doch selbst unter denen, die sich bei Umfragen keiner Religion zuordnen, befinden sich offenbar gläubige Menschen. Darauf lassen Studien aus Mexiko, Argentinien, Chile und Brasilien schließen. "Sie sind unzufrieden mit dem, was ihnen die Katholische Kirche bietet, und suchen nach anderen Möglichkeiten, ihre Spiritualität auszuleben", erläutert Glaubensexperte Gumucio.
Ein neues Phänomen sei das allerdings nicht. "Die Lateinamerikaner pflegen eine gewisse Tradition, ihren alten Glauben mit neuen Einflüssen zu vermischen", so Gumucio. Prominente Beispiele finden sich in der Karibik und im brasilianischen Nordosten, wo sich seit Jahrhunderten die Naturreligionen der früheren afrikanischen Sklaven mit dem Katholizismus der Kolonisatoren vermischen. Doch auch indigene Gottheiten sind in der katholischen Dreifaltigkeit oder den römischen Heiligen aufgegangen.
Ein Papst zur rechten Zeit?
Die Fähigkeit, verschiedene Glaubenstraditionen miteinander zu verquicken, erklärt jedoch noch nicht, warum sich heute so viele Lateinamerikaner von ihrem alten Glaubensbekenntnis abwenden. Der Prestigeverlust der katholischen Kirche kann diese Entwicklung nur zum Teil erklären, allein schon weil sie älter sind als die Skandale der letzten Jahre.
Ein struktureller Vorteil der besonders erfolgreichen Evangelikalen und Freikirchen liegt sicher in ihrer dezentralen Organisation. Sie sind vielfach einfach näher dran an den Gläubigen. Die autoritäre Hierarchie der Katholiken mit ihrem absoluten Machtzentrum in Rom, aber auch die etablierten protestantischen Kirchen aus Europa sind weniger beweglich als ihre alternative Konkurrenz. Sie werben aktiv um Mitglieder, indem sie ihre Gemeindearbeit nicht nur an den spirituellen, sondern auch an den realen und materiellen Bedürfnissen der Menschen ausrichten wie Arbeitssuche und Bildung, Suchtüberwindung und Familienfrieden.
Dennoch, glaubt Gumucio, dass die Katholische Kirche - dank dem neuen Papst - eine Chance hat, verlorenen Boden wieder gut zu machen. Weniger weil Franziskus in Argentinien geboren wurde, sondern weil er bis vor kurzem dort gewirkt hat, wisse er worauf es ankommt und wolle daraus allem Anschein nach auch Konsequenzen ziehen: "Er betont, dass der Katholizismus nicht länger abseits der persönlichen Schicksale der Gläubigen verharren kann."
Sollte es dem Oberhirten Franziskus nicht gelingen, seine verlorenen Schäfchen in Lateinamerika wieder einzufangen, wird aus dem "katholischen Kontinent" wohl bald der "christliche Kontinent".