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Leben mit der Angst

Wolfgang Dick15. Oktober 2014

Rund 30 Prozent der Flüchtlinge und Asylbewerber gelten als traumatisiert. Leidvolle Erfahrungen enden leider nicht mit der Ankunft in deutschen Aufnahmeeinrichtungen. Weitere psychische Belastungen drohen.

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Symbolbild Notstand deutscher Städte bei Flüchtlingsunterkünften (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Das überfüllte Wohnheim in der Nähe von Köln nimmt Ruan gar nicht wirklich wahr. Den jungen Mann aus Somalia treibt eine innere Unruhe. Er kann wegen seiner Alpträume nicht richtig schlafen. Immer wieder sieht er vor seinen Augen, wie seine Familie bei einem Anschlag von Milizen getötet wird. Ruan selbst hat Misshandlungen erlebt, seine Schwester Marula wurde vergewaltigt. Schleuser haben den beiden das letzte Geld genommen. Ihre Papiere gingen auf dem Boot verloren, das sie nach Italien brachte. Von dort setzten sie ihre Flucht über Frankreich und Holland nach Deutschland fort. Ihre Odyssee haben sie den Behörden in Deutschland bereits geschildert. Ein Dolmetscher half. Jetzt wollen sie lieber schweigen und auch nicht mehr fotografiert werden. Das haben sie bereits hinter sich.

Ein Fingerabdruck wird von einem Flüchtling genommen (Foto: L. Abebe (DW))
Altersbestimmung von Flüchtlingen ohne Papiere belastenBild: DW/L. Abebe

Erkennungsdienstliche Maßnahmen

Bei Verdacht auf illegale Einreise ist die Polizei verpflichtet, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten und so genannte erkennungsdienstliche Maßnahmen durchzuführen. Fotos werden gemacht, Fingerabdrücke genommen. Im Fall von fehlenden Papieren und nicht eindeutigen Angaben muss das tatsächliche Alter ermittelt werden. Zahnstellungen und Knochenbau werden betrachtet - in Einzelfällen auch die Schambehaarung. Das alles ist aber nicht immer hilfreich. Das Alter wird dann über Röntgenaufnahmen von Knochen in der Hand und Brust oder Schlüsselbeingelenken ermittelt. Institute der Rechtsmedizin übernehmen das.

Ärzteverbände bezeichnen diese Verfahren als "unethisch" und verweisen darauf, dass das "Knochenalter" sogar um mehrere Jahre vom tatsächlichen Alter einer Person abweichen kann. Außerdem stellten Röntgenstrahlen eine Körperverletzung dar. Viele jugendliche Flüchtlinge erleben die Maßnahmen als demütigend, wie Gespräche bei den Ermittlungsbehörden ergaben. Oft beklagen sie auch die Bedingungen beim Transport. Auf Anfrage von Berliner Abgeordneten vom April 2013 gab der Senat zu, dass Minderjährigen auch Handfesseln angelegt werden: "zur Vermeidung einer Fremd- oder Eigengefährdung oder zur Verhinderung der Flucht". Gewahrsam in offenen Sammelzellen ohne Kontakt zu anderen Personen sei während des Datenabgleichs möglich. Für freiheitsbeschränkende Maßnahmen während der erkennungs-dienstlichen Maßnahmen sei keine richterliche Anordnung nötig, so der Berliner Senat.

Ein Mann geht in einen Wohncontainer (Foto: dpa)
Traumatisierte bleiben oft ohne HilfeBild: picture-alliance/dpa

Alptraum Asylverfahren

Ruan und Marula haben wie viele tausende Flüchtlinge noch ein anderes Problem. In jedem Asylverfahren prüft das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, ob den Antragstellern überhaupt Schutz zu gewährleisten ist. Wenn sie - bevor sie nach Deutschland kamen - zuerst ein anderes Land der Europäischen Union betraten, ist dieses Land eigentlich zur Aufnahme verpflichtet. Im Fall von Ruan und Marula wäre das Italien. Jetzt wird geprüft. Zu dieser Prüfung zählen auch die Angaben über Gründe der Flucht. Nicht selten wurden in der Vergangenheit Angaben zu Fluchtgründen als "nicht hinreichend" oder "nicht substantiell" abgelehnt.

"Das eigentlich Belastende sind die häufig sehr langen Asylverfahren", sagt Bernd Mesovic von der Organisation ProAsyl. Die Verfahren können bis zu eineinhalb Jahren dauern. Besonders zermürbend seien kurzfristige Verlängerungen von Aufenthalts-Duldungen. "Die Zeit der Unsicherheit wird als Ohnmacht empfunden und verstärkt die posttraumatischen Belastungsstörungen aus Erlebnissen vor der Flucht", beschreibt Elise Bittenbinder die Situation vieler Flüchtlinge. Die Pädagogin und Psychotherapeutin arbeitet für die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e.V. - ein Zusammenschluss von 25 spezialisierten Stellen, die sich um Behandlungsmethoden für traumatisierte Flüchtlinge kümmern. "Es hat selten in der Geschichte so viele Behandlungsbedürftige gegeben, die nach Deutschland gekommen sind", ergänzt Bernd Mesovic von ProAsyl. "Oft bleibt wieder nur die Angst".

Flüchtlinge in Rosenheim (Foto: Bundespolizei Rosenheim)
Flüchtlinge erleben viele zusätzliche BelastungenBild: Bundespolizei Rosenheim

Ein Berg von Belastungen

Die psychischen Belastungen von Flüchtlingen können nicht immer berücksichtigt werden. Depressionen, Ängste oder Suizidgefährdungen bleiben häufig unerkannt oder unbehandelt, weil die medizinische Versorgung im Asylbewerberleistungsgesetz nur akute Erkrankungen und Schmerzzustände abdeckt.

Auch im täglichen Leben lauern psychische Beschwernisse. Darauf verweisen neben ProAsyl auch Wohlfahrtsverbände wie Caritas und Diakonie. Asylsuchenden ist es zum Beispiel in den ersten Monaten ihres Aufenthaltes in Deutschland verboten zu arbeiten. Sprachförderungen hängen an bestimmten Aufenthaltstiteln und Aufenthaltszeiten. Die erzwungene Tatenlosigkeit werde noch verstärkt durch die Residenzpflicht, die es Flüchtlingen vorschreibt, ihren von den Behörden zugeteilten Wohnort nicht zu verlassen. Zentrale Unterbringung sorge häufig für eine Ghettobildung und isoliere die Menschen zusätzlich. "Wenn für den Kauf von Lebensmitteln dann auch noch Gutscheine vergeben werden, die den Kauf von Konsumartikeln verbieten, dann wird das als herabwürdigend empfunden", weiß Pädagogin Elise Bittenbinder aus zahlreichen Gesprächen mit Flüchtlingen.

Mildernde Umstände

Doch die Situation der Flüchtlinge soll sich verbessern. Das Bundesverfassungsgericht entschied bereits, dass Asylbewerber und Flüchtlinge mehr Geld bekommen. Ein menschenwürdiges Existenzminimum soll gewährleistet sein. Einkaufsgutscheine verwenden viele Städte und Gemeinden kaum noch - Sachleistungen sollen durch Geldbeträge zur freien Verwendung ersetzt werden. Die Residenzpflicht, die einige Bundesländer schon gelockert haben, soll durch weitere Bewegungsfreiheiten für Flüchtlinge abgelöst werden. So sieht es ein Gesetzesvorhaben der Bundesregierung vor, zu dem der Bundesrat im September seine Zustimmung gab. Die Angst vor ihrer Zukunft wird vielen Flüchtlingen bleiben. So wie Ruan und Marula aus Somalia.