Leipziger Buchpreis für Maria Stepanova
26. April 2023Maria Stepanova, eine der wichtigsten Stimmen der russischen Literatur, erhält damit einen der renommiertesten Literaturpreise Europas. Keine Selbstverständlichkeit in Zeiten, in denen Russland sich die vermeintliche Rettung der russischen Sprache und Kultur in dem von ihm angegriffenen Nachbarland Ukraine auf die Fahnen schreibt. Eine Geste zudem, die auf ukrainischer Seite mit gemischten Gefühlen aufgenommen wird.
Stimme des nichtimperialen Russlands
Der Leipziger Preis, der dieses Jahr bereits zum 30. Mal vergeben wird, ging auch schon früher an feste Größen der Weltliteratur wie Swetlana Alexijewitsch (1998), Bora Ćosić (2002) oder Jurij Andruchowytsch (2006). Stepanova wird für ihren Lyrikband "Mädchen ohne Kleider" ausgezeichnet – eine sensible, vor allem aber hochpoetische Studie über die Natur von latenter, versteckter Gewalt, meisterhaft übersetzt von Olga Radetzkaja und erschienen 2022 bei Suhrkamp-Verlag. Die Lyrikerin, geboren 1972, lebt zur Zeit im Exil in Berlin – wie sehr viele russische Kulturschaffende, die keinen Platz mehr für sich in ihrer Heimat sehen.
Stepanova, die 2021 mit ihrem Roman "Nach dem Gedächtnis" für den britischen Booker Prize nominiert war, sei für "die Unbedingtheit, mit der sie auf der poetischen Wahrnehmung der Welt besteht" zu ehren, so die Begründung der Leipziger Juroren. "Unablösbar in der Gegenwart und in der russischen Sprache von Alexander Puschkin über Ossip Mandelstam bis Marina Zwetajewa verankert, ist ihr Werk zugleich ein Hallraum der Weltliteratur", so die Juroren weiter.
Neben der rein literarischen hat die Auszeichnung natürlich auch eine politische Dimension. Stepanova verhelfe "dem nicht-imperialen Russland zu einer literarischen Stimme, die es verdient, in ganz Europa gehört zu werden."
Einen Raum des Dialogs bewahren
Genau das sorgt für Unmut bei einem Teil der ukrainischen Community. Eine russischsprachige und russischschreibende Autorin auszuzeichnen, sei ein Affront gegenüber ihrem Land, das nicht nur um seine territoriale Integrität, sondern auch um ein Recht auf eigene Kultur, eine eigene Sprache, ein eigenes Geschichtsbild und eine eigene Zukunftsvision kämpft, kritisieren einige. Zahlreiche Hasskommentare sind in unterschiedlichen sozialen Medien zu lesen.
"Ich habe die Nase voll von den Deutschen und deren 'guten Russen' und will nichts von der russischen Kultur hören, da diese Kultur nichts bewirkt hat, nur Böses", schreibt etwa eine in Deutschland lebende ukrainische Journalistin auf ihrem Facebook-Account. Gegenüber der DW will sie ihre Position allerdings nicht erläutern.
"Ich kann die Gefühle der ukrainischen Kollegen durchaus verstehen", sagt Stepanova, die neben ihrer literarischen Tätigkeit viele Jahre die wichtigste russische Online-Plattform für Kulturthemen, colta.ru, als Chefredakteurin leitete. Inzwischen ist das Medium in Russland verboten. "In dieser für uns qualvollen und für die Ukrainer unermesslich furchtbareren Situation kann man sich gerade tatsächlich kaum einen Dialog vorstellen, kaum einen Tisch, an dem Russen und Ukrainer gemeinsam sitzen würden", so Stepanova im DW-Gespräch. "Aber die russische Sprache ist etwas anderes. Auch die Ukrainer sollten daran interessiert sein, dass die russische Sprache nicht alleiniges Eigentum derjenigen bleibt, die diesen Krieg bereits 2014 mit der Annexion der Krim entfesselt haben. Schließlich ist Russisch auch die Muttersprache von zahlreichen ukrainischen Bürgern und eine wichtige Stimme im einmaligen, mannigfaltigen Chor der ukrainischen Kultur."
Sprache als Minenfeld
Ihre literarische Tätigkeit versteht Maria Stepanova weitgehend auch als Kampf um ihre Sprache. "Ich glaube, die russische Sprache braucht uns mehr, als wir sie brauchen", sagt sie gegenüber der DW. "Es wäre interessant, rein linguistisch zu analysieren, was in der russischen Sprache in Russland heute so abläuft."
Nicht nur die Sprache der Propaganda, sondern auch die der alltäglichen Kommunikation sei, so die Literatin Stepanova, ein "ungeheuerliches Patchwork aus maroden Sprachlumpen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, etwa denen der 1930er-Jahre und dem unausgegorenen 'Siegervokabular'". Der Krieg habe, so Stepanova, alles latent Aggressive zutage gefördert, was es "eigentlich in jeder großen europäischen Sprache gibt und was gerade in Situationen einer absoluten, ungeheuerlichen Ungerechtigkeit offensichtlich ist". Der Vergleich mit der Sprache der italienischen Faschisten oder aber mit dem Deutsch des Dritten Reiches liege nah.
"Aber in einem solchen Zustand kann eine große Sprache nicht existieren", sagt Stepanova. "Und gerade in der Poesie, die immer eine Sprache der Zukunft ist, liegt die Rettung." In einer ersten Reaktion auf die Verleihung des Leipziger Preises verglich Stepanova die russische Sprache von heute mit einem "Minenfeld". Ihre Mission als Dichterin: "Als Lyrikerin in dunklen Zeiten arbeite ich wie eine Minenentschärferin", so Stepanova gegenüber dem Deutschlandfunk. "Ich grabe die Sprache aus und säubere sie, versuche, ihr eine neue Existenz zu geben."